Eltern untergetauchter Linksautonomer: „Das Leben unserer Tochter steht still“
Nach ihrer Tochter wird wegen Gewalt gegen Rechtsextreme gefahndet. Die Eltern fürchten überzogene Haftstrafen unter unwürdigen Bedingungen in Ungarn.
taz: Die Polizei sucht seit einem Jahr Ihre Tochter, weil sie ihr vorwirft, sich an Angriffen auf Teilnehmende des rechtsextremen „Tag der Ehre“ im Februar 2023 in Budapest beteiligt zu haben. Wie geht Ihre Tochter damit um? Wie gehen Sie damit um?
Barbara W.: Unsere Tochter kann seit einem Jahr nicht mehr an einem normalen Leben teilnehmen. Rund um den „Tag der Ehre“ nahm die Polizei sie in Budapest fest. In einer Polizeistation wurden ihre Personalien aufgenommen, Fotos gemacht und der Personalausweis abgelichtet. Anschließend wurde sie freigelassen. Mit den gemachten Bildern wurde kurze Zeit später nach ihr und anderen Personen gefahndet. Die Bild Zeitung hat die Fahndungsbilder in Deutschland veröffentlicht, eine öffentliche Vorverurteilung und Hetze.
Walter W.: Ihren 23. Geburtstag feierte sie ohne uns. Wir können gut verstehen, dass sie sich der Inhaftierung entzieht. Ihr droht die Gefahr einer Auslieferung in einen fragwürdigen Rechtsstaat. Von einem unabhängigen Verfahren gehen wir nicht aus.
sind Eltern der untergetauchten Linksautonomen und beide 63 Jahre alt
Neben Ihrer Tochter werden wegen der Vorfälle in Budapest auch 11 weitere deutsche Linke gesucht. Ihnen drohen in Ungarn jahrelange Haftstrafen. Was wirft die Staatsanwaltschaft Ihrer Tochter vor?
Walter W.: Die Beschuldigten werden bezichtigt, an Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen beteiligt gewesen zu sein, die zu Körperverletzungen führten. Außerdem wird ihnen vorgeworfen, Teil einer kriminellen Vereinigung zu sein.
Barbara W.: Wir haben keine Informationen, was ihr eigentlich genauer vorgeworfen wird. Selbst der Anwalt von Maja – der Person, die im Dezember in Berlin festgenommen wurde und die auf die Entscheidung wartet, ob die deutschen Behörden sie nach Ungarn ausliefern – kennt nur rund 100 Seiten der Akte. Insgesamt umfasst diese aber wohl mindestens 2.000 Seiten. Was ja schon andeutet, wie das Verfahren vor einem Budapester Gericht laufen dürfte. Und wie Beschuldigte dort und in Untersuchungshaft behandelt werden, sehen wir bei Ilaria Salis.
Die 39-jährige Lehrerin aus Italien steht bereits in Budapest vor Gericht. Ihr wird eine „heimtückische Gewalttat“ wegen der Angriffe vorgeworfen.
Walter W.: Sie wurde mit Fuß- und Handschellen und einer Kette im Gerichtssaal vorgeführt, bewacht von vermummten Männern – als ob Salis hochgefährlich wäre. Eine Erniedrigung. Ein Mitarbeiter der ungarischen Menschenrechtsorganisation Helsinki-Komitee sprach von einer Grundrechtsverletzung. Auch die Berichte über die Inhaftierung sind erschreckend: zu kleine Zellen, keine Intimsphäre, unzureichende Waschgelegenheiten, Insekten- und Bettwanzenplagen, keine Telefonate oder Besuche von Angehörigen in den ersten sieben Monaten. Diese Bedingungen sind schockierend.
Ist Ihre Tochter in einer politischen Gruppe aktiv?
Walter W.: Unsere Tochter hat sich schon früh für Politik interessiert. Ungerechtigkeit will sie nicht einfach hinnehmen. Im Gegenteil: Die Klimaveränderungen und der Rechtsruck in der Gesellschaft sorgen sie schon lange.
Barbara W.: Wir haben viel über die politischen Entwicklungen geredet. Ganz früh fragte sie zum Beispiel, was die Stolpersteine denn für eine Bedeutung hätten. Dass sie nach Budapest fahren würde, wussten wir allerdings nicht.
Walter W.: Wir hätten ihr aber auch nicht abgeraten, zur Gegendemonstration zu fahren.
Barbara W.: Ich denke nicht. Wir hätten nur gesagt: Pass auf dich auf und komm gesund zurück.
Können Sie einschätzen, wie es Ihrer Tochter geht?
Barbara W.: Wir wissen es nicht, aber wie soll es jemandem gehen, der Angst vor der Auslieferung und dieser Strafandrohung hat? Für unsere Tochter steht das Leben still. Wie soll sie sich weiterentwickeln und einen Berufsweg einschlagen? Wenn man da rausgerissen ist von allem, da muss man sich aufrecht halten und durchhalten.
Und wie geht es Ihnen?
Walter W.: Wir sind in großer Sorge. Wir befürchten die Festnahme und eine Auslieferung nach Ungarn. An die angedrohte Haft – 24 Jahre, über 1.000 km entfernt, fast ohne Besuchsmöglichkeit von Freund:innen und Angehörigen, unter menschenunwürdigen Bedingungen – will ich gar nicht denken.
Bei anderen betroffenen Eltern stürmte das SEK die Wohnung, Razzien fanden statt. Bei Ihnen noch nicht?
Barbara W.: Wir werden überwacht. Die Polizei macht es teilweise auch so, dass wir es wohl bemerken sollen. Auf dem Weg zur Geburtstagsfeier unserer älteren Tochter verfolgten sie uns mit mehreren Fahrzeugen. Sie dachten wohl, dass ihre Schwester kommen würde. In der Nacht kurz vor ein Uhr drang die Polizei dann ins Haus ein, suchte nach ihr. Unsere Enkelkinder waren geschockt. Bei uns kam vor Weihnachten auch der Verfassungsschutz vorbei. Sie gaben sich als DHL-Boten aus, sodass ich ihnen die Tür aufmachte. Sie wollten ‚zum Vater‘.
Walter W.: Sie wollten dann im Treppenhaus, vor unserer Wohnungstür, mit mir über meine Tochter reden. Sie schlugen vor, dass sie sich stellen sollte – sie würden dann helfen. Zeitgleich suchte der Verfassungsschutz ihre Oma auf.
Barbara W.: Sie redeten auf die 87-Jährige ein, jetzt vor Weihnachten würde ihre Enkelin doch sicher kommen, sie solle sich dann mal melden. Sie wolle doch sicher auch das ‚Kind‘ zurückholen.
Das Landeskriminalamt Sachsen, das die Fahndung leitet, geht bei dem Angriff von einer aus dem Untergrund agierende Gruppe aus, die sich radikalisiert hätte. Die Ermittlungsmethoden dürften sie nicht überrascht haben, oder?
Barbara W.: Uns ist klar, dass die Polizei hofft, über uns unsere Tochter zu erwischen. Diese Darstellung einer Untergrundgruppe ist ein Konstrukt. Wir denken, unsere Tochter hat sich der Haft entzogen, weil sie die Auslieferung nach Ungarn befürchten.
Walter W.: Es scheint uns, als wolle das LKA in der Öffentlichkeit eben ein falsches Bild von den gesuchten Antifaschist:innen zeichnen und so auch gleich andere Menschen als Unterstützer:innen kriminalisieren.
In Budapest erfolgten aber tatsächlich schwere Angriffe.
Walter W.: Nach unserem Wissen sind am Rande des „Tags der Ehre“ Rechtsextreme angegriffen worden. Auch für unsere Kinder gilt erstmal die Unschuldsvermutung. Wir wollen die Auslieferung an einen Staat verhindern, der rechtsextreme Aufmärsche von mehreren tausend Nazis auch finanziell unterstützt. In Ungarn drohen unseren Kindern überzogene Haftstrafen unter unwürdigen Bedingungen.
Barbara W.: Schon das angedrohte Strafmaß belegt doch die Vorverurteilung und das politische Interesse Ungarns. Und wenn man sieht, dass Rechtsterroristen 2023 begnadigt wurden, die Brand- und Sprengstoffanschläge auf Häuser von linken Politiker:innen verübten und einen Homosexuellen-Club angriffen, die Menschen verletzten, dann befürchten wir für Antifaschist:innen kein unabhängiges Verfahren. Die Bundesrepublik und auch kein anderes Land darf unsere Kinder in so einen autoritären Staat ausliefern. Die dort bereits Inhaftierten Tobias E. und Ilaria Salis müssen in ihre Heimatstaaten rücküberführt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“