Integrationsbeauftragte über Silvester: „Es geht um abgehängte Jugendliche“

Bei der Debatte über Gewalt an Silvester sei der Fokus auf ethnische Herkunft falsch, sagt die Berliner Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial.

Ein ausgebrannter Bus

Soziale Sprengkraft: Ein ausgebrannter Reisebus in der Sonnenallee Foto: Paul Zinken/dpa

taz: Frau Niewiedzial, in Berlin gab es in der Silvesternacht besonders heftige Angriffe auf Polizei und Feuerwehr. Seither wird hitzig über Migration diskutiert – der CDU-Politiker Jens Spahn etwa sprach von „gescheiterter Integration“. Aus Ihrer Sicht als Berliner Integrationsbeauftragte: Ist das der richtige Fokus?

Katarina Niewiedzial: Eindeutig nein. Die Gewalt an Silvester geht auf eine Gruppe randalierender Jugendlicher zurück. Diese verurteile ich auf Schärfste. Aber wer das zu einem „Ausländerthema“ machen will, dem sei ­gesagt: 1,4 Millionen Menschen in Berlin haben einen sogenannten Migra­tionshintergrund, das sind 38 Prozent der Bevölkerung. Wir tun dieser großen Gruppe Unrecht, wenn wir sie in Gänze stigmatisieren und kriminalisieren.

Laut Polizei gab es unter den Festgenommenen 18 Nationalitäten. Etwa ein Drittel waren Deutsche, dann folgten Afghanen und Syrer. Was sagen diese Zahlen aus?

Grundsätzlich spiegeln die Zahlen relativ unaufgeregt die Bevöl­kerungszusammensetzung in Berlin wider. Hier leben Menschen aus 190­ ­Nationen friedlich zusammen. Deswegen sollte nicht die ethnische, sondern die soziale Herkunft in den Blick genommen werden. Es geht um abgehängte Jugendliche – und zwar um unsere Jugendlichen. Jetzt zu signalisieren: „Ihr gehört nicht dazu“, ist das völlig falsche Signal. Was wir stattdessen brauchen, ist eine Debatte darüber, wie eine Bildungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik aussehen muss, die auf eine Migrationsgesellschaft ausgerichtet ist.

45 Jahre alt, ist seit 2019 die ­Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration.

Also ist es doch ein Migrationsthema?

Nicht insofern, dass Migration ein Problem ist. Aber es ist nun mal Fakt, dass Jugendliche mit Migrationsgeschichte häufiger von Unterrichtausfall betroffen sind, keinen Schulabschluss haben und daher auch keine berufliche Perspektive bekommen. Die Startbedingungen in unserer Gesellschaft sind ungleich verteilt. Wir müssen darüber reden, in welchen sozialen Realitäten und mit welchen Rassismus­erfahrungen Menschen in unserer Stadt aufwachsen. Und genau da müssen wir ansetzen.

Die Täter haben gezielt Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr angegriffen. Was sagt das aus über ihr Verhältnis zum deutschen Staat?

Die Botschaft hinter den Angriffen lautet: Wir gehören nicht dazu. Es ist enorm wichtig, darauf als Staat nicht einzig und allein mit Law-and-Order-Politik zu reagieren. Als Ber­liner ­Beauftragte für Integration und Migration treibt mich die Frage um, wie wir es schaffen in einer von ­Migration geprägten Gesellschaft, Brücken zu bauen, mehr Teilhabe zu ermöglichen und strukturellen Rassismus abzubauen.

Über welche Bereiche sprechen wir da?

Die Situation in den Berliner Schulen zum Beispiel ist katastrophal – gerade in den sozial benachteiligten Stadtteilen und Regionen. Es fehlt an neuen Schulgebäuden, technischer Ausstattung und mehr Personal, das die Lebensrealitäten der jungen Menschen besser versteht. Es muss uns gelingen, den jungen Menschen eine berufliche Perspektive zu geben. Das heißt: Schulabschluss, Ausbildungs- oder Studienplatz.

Was hat das konkret mit Zugehörigkeit zu tun?

So gut wie jedes zweite Kind hier in Berlin hat eine familiäre ­Migrationsgeschichte. Im Unterricht kommt das aber, wenn überhaupt, im Ethik­unterricht vor. Ich stelle mir vor, ich sei eine Jugendliche und mein ­Leben spielt in der Schule gar keine Rolle – das macht etwas mit einem. Das meine ich mit den zielgenauen Lösungen: Präventions- und Bil­dungsarbeit muss in sozial benachteiligten ­Stadtteilen deutlich besser aus­gestattet werden. Es kann nicht sein, dass gerade dort die Ressourcen immer am Limit sind, dass Leh­re­r*in­nen und So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen immer am Limit sind. Genau dort müssen wir investieren – weil wir die Jugendlichen eben nicht als verloren auf­geben ­dürfen.

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