Grünen-Parteitag: Abgebaggerte Ideale

Der Kohleabbau unter Lützerath wird heftiger debattiert als jedes andere Thema. Aktivistin Luisa Neubauer liest der Parteiführung die Leviten.

Eine Frau die zwischen Stuhlreihen im Publikum aufgestanden ist, hält ein Schild mit der Aufschrift "Frieden ernst nehmen. Jetzt abrüsten"

Obwohl Saudi-Arabien Krieg im Jemen führt, haben die Grünen in der Regierung einem Waffenexport zugestimmt

BONN/BERLIN taz | Auch am dritten Tag des grünen Parteitags wird vor dem World Conference Center in Bonn demonstriert. Fridays-for-Future-Aktivist*innen haben sich vor den Türen aufgebaut, „Lützi bleibt“ und „Wo Grün draufsteht, sollte auch Grün drin sein“, steht auf ihren Plakaten.

„Du stimmst heute für Lützerath, oder?“ Einer der Demonstranten spricht die eintreffenden Delegierten direkt an. „Klar“, sagt die junge Frau und lacht. Bleibt sie dabei, wird sie sich gegen den Vorschlag des Bundesvorstands der Partei stellen – und die grünen Wirt­schafts­mi­nis­te­r*in­nen im Bund und NRW, Robert Habeck und Mona Neubaur, mindestens vor das Schienbein treten.

Letztere hatten mit dem Energiekonzern RWE vereinbart, den Kohleausstieg im Rheinischen Revier um acht Jahre auf 2030 vorzuziehen. Zugleich sollen angesichts der aktuellen Energiekrise zwei Braunkohlekraftwerke länger als geplant laufen. Die Siedlung Lützerath soll abgerissen werden, um Kohle zu fördern. Ein Antrag der Grünen Jugend will das verhindern. Der Grünen-Nachwuchs fordert ein Räumungsmoratorium für Lützerath und neue Gespräche mit RWE.

Drinnen liest Kimaaktivistin und Grünen-Mitglied Luisa Neubauer den Grünen die Leviten. „Ihr regiert unter den härtesten nur vorstellbaren Bedingungen“, gestand sie zu, kritisierte dann aber einen „ökologischen Hyperrealismus“. Da werde erklärt, „dass man sich nicht im Kleinen verkämpfen soll, da sättigt man die Demokratie lieber noch mit einer Runde Öl von Verbrechern, damit die Gesellschaft nicht die Laune verliert für den Klimaschutz.“

Lützerath ist mehr als ein Symbol

Neubauer fährt fort: „Da werden klimafeindliche Entscheidungen so plausibel verteidigt – wenn man still ist, hört man irgendwo ein Ökosystem weinen.“ In Lützerath manifestiere sich das große Ganze. Das Dorf sitze auf Millionen Tonnen CO2, es sei eine reale Festung für den Bruch mit dem Pariser Abkommen. Die Delegierten klatschen begeistert.

Dann tritt Landwirtschaftsminster Cem Özdemir ans Mikrofon. Im Gegensatz zu Neubauer lobt er den „Riesenerfolg“ in NRW. Der vorgezogene Kohleausstieg bedeute auch, dass Bauern ertragreiche Flächen weiter bewirtschaften können. Man habe nicht 50 Prozent, ruft Özdemir in den Saal, sondern sei in der Minderheit. „Aber aus der Minderheit heraus verändern wir Dinge.“ Da donnert der Applaus durch die Halle, noch lauter als bei Neubauer. Da zeigt sich, wie hin- und hergerissen manche Delegierte sind.

Lützerath sei mehr als ein Symbol, sagt der Vorsitzende der Grünen Jugend, Timon Dzienus, als er den Antrag konkret begründet. Er sorge sich, dass die Grünen die Klimaziele aus den Augen verlieren und den Schulterschluss mit der Klimabewegung. Die Gegenrede kommt von Oliver Krischer. „Wenn wir Moratorium sagen, dann gibt es keinen Kohleausstieg 2030“, so der NRW-Umweltminister. Die Debatte wogt hin und her, so engagiert wie an keinem Programmpunkt zuvor an diesen drei Tagen, selbst bei der AKW-Debatte am Freitagabend nicht.

Am Ende ist es knapp. So knapp, dass die Abstimmung schriftlich wiederholt werden muss. Um 15.17 Uhr ist klar: Der Antrag der Grünen Jugend ist abgelehnt: 294 zu 315 Stimmen.

AKWs in Einsatzreserve: Eine „Zumutung“

Mit breiter Zustimmung dagegen hatte der Parteitag am Freitagabend einen Antrag des Bundesvorstands zur AKW-Einsatzreserve zugestimmt. So sollen die Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim II bis zum 15. April in einer Reserve gehalten und bei Bedarf weiter für die Stromerzeugung genutzt werden. Das dritte verbleibende AKW Emsland soll zum 1. Januar 2023 endgültig abgeschaltet werden. Klar sprachen sich Grünen gegen die Beschaffung neuer Brennstäbe aus.

Von einer „Zumutung“ für die Grünen und sie persönlich hatte Umweltministerin Steffi Lemke, die auch für nukleare Sicherheit zuständig ist, während der Debatte gesprochen – und dann aus Verantwortung für Zustimmung geworben. Habeck bat auch „als Minister, der am Ende für die Versorgungssicherheit zuständig ist“, um Zustimmung.

Ohnehin war an diesem Wochenende bei den Grünen viel von Verantwortung die Rede. „Wir tragen diesen Staat, wir tragen diese Gesellschaft, wir tragen diese Demokratie“, hatte Parteichef Nouripour zu Beginn gerufen. Immer wieder zelebrierten sich die Grünen geradezu als Regierungspartei.

„Wer garantiert uns, dass wir den 15. 4. nicht auch kippen?“, fragte dagegen einer der Kritiker des AKW-Beschlusses, der Delegierte Karl-Wilhelm Koch. Es sei gefährlich, den mühsam ausgehandelten Ausstieg aus der Atomkraft aufzulösen.

Waffenexporte nach Saudi-Arabien

Eine erste Bewährungsprobe musste der Beschluss noch vor Ende des Parteitags bestehen. Am Sonntagmittag gab es im Kanzleramt in Berlin ein Treffen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), FDP-Chef Christian Lindner und Habeck, um den Streit um Atomkraft beizulegen. Die FDP fordert den Kauf neuer Brennstäbe. Ein Ergebnis gab es bis Redaktionsschluss bei dem Krisentreffen im Kanzleramt nicht.

Auf dem Parteitag in Bonn war neben Kohle und Atom auch die Außenpolitik Thema. Wenig Dissens gab es in Sachen Ukrainekrieg: Stimmen von der Basis, die ein Ende der Waffenlieferungen oder Verhandlungen mit Russland forderten, waren klar in der Minderheit. In einem Beschluss forderten die Delegierten sogar, Waffenlieferungen auszuweiten.

Strittiger sind Waffenexporte an Saudi-Arabien. Kurz vor dem Parteitag hatte die Bundesregierung kommerzielle Lieferungen von Kampfjet-Zubehör und Munition genehmigt – trotz des von Saudi-Arabien geführten blutigen Jemenkriegs. Außenministerin Annalena Baerbock erklärte die Entscheidung in Bonn mit realpolitischen Zwängen. Eine Abstimmung zum Thema gab es nicht. Kritische Anträge aus der Partei hatte der Vorstand in einem Kompromiss in veränderter Formulierung übernommen. „Wir lehnen jegliche Rüstungsexporte an Saudi-Arabien ab“, heißt es darin.

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