Debatte um Waffenlieferungen: Wo Habermas irrt
Der Philosoph Jürgen Habermas unterstellt uns Jüngeren Naivität. Doch auch unsere Abkehr vom Pazifismus ist von vergangenen Kriegen geprägt.
N un hat sich auch Jürgen Habermas in die Debatte um deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine eingeschaltet. Differenzierter als andere, sich auf Pazifismus berufende Kollegen warnt der Philosoph vor einer einhelligen Befürwortung der Waffenexporte und vor einer möglichen Eskalation des Krieges. Gegen eine Atommacht könne man nicht gewinnen, glaubt er, was nicht ganz falsch ist, aber auch nicht ganz richtig. Regionale Niederlagen hat Russland in der Vergangenheit ja bereits erlebt.
Den Jüngeren, die weder den Zweiten Weltkrieg noch die Logik des Kalten Krieges aus eigener Erfahrung kennen, unterstellt Habermas Naivität und findet die konvertierten einstigen Pazifisten kurzschlüssig. Dabei ist die Abwendung von einem klassischen Pazifismus so plötzlich nicht geschehen, sondern geht insbesondere bei den Grünen auf Joschka Fischers Neuinterpretation der historischen Verantwortung Deutschlands zurück. Er habe gelernt, nie wieder Krieg, aber er habe auch gelernt, nie wieder Auschwitz, erklärte Fischer 1999 und rechtfertigte so den deutschen Kriegseinsatz im Kosovo.
Habermas’ größter Denkfehler steht schon im ersten Satz. „Nach 77 Jahren ohne Krieg“, so hebt er an. Mit der Autorität des Älteren übersieht er, dass auch die jüngere Generation von Krieg geprägt ist. Für Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Iran, Irak oder Syrien müssen die 77 Jahre wie Hohn klingen. Sie sind vor Kriegen nach Deutschland geflohen und prägen heute unsere Gesellschaft mit.
Gerade die Kriege auf dem Balkan, aber auch der Völkermord in Ruanda, das Versagen der UN-Blauhelmsoldaten in Kigali wie in Srebrenica, veränderte die Frage nach Friedenssicherung und ihrer ethischen Grundlage. Im Völkerrecht entwickelte sich die Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft heraus. Nichtbeteiligung am Krieg ist so simpel, wie Habermas sie wünscht, eben längst nicht mehr. Dass die Nato nicht Kriegspartei wird, bleibt dennoch das Gebot, übrigens auch für die meisten Konvertierten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Menschenrechtslage im Iran
Forderung nach Abschiebestopp