Krieg in der Ukraine: Gegen das enge Denken
Die Bilder des Kriegs erzeugen kaum zu ertragenden Druck. Dabei ist es Zeit für Nüchternheit. Und für eine neue Friedensbewegung gegen allseitigen Imperialismus.
M anche haben in diesen langen Kriegswochen das Gefühl, den Einsturz ihres eigenen kleinen Lebensgebäudes zu erleben. Das Scheitern aller Ambition, aller Hoffnung, die sich mit dem Wort Altermondialismus verbindet. Depressives Schweigen ist wie eine dünne Schicht, darauf türmt sich der laute Moralismus vieler anderer.
Kein bisheriger Krieg wurde in allen fürchterlichen Details so bildreich in die Hirne und Seelen gezwungen wie dieser, als sei es der Ur-Krieg, Horror ohnegleichen. Das erzeugt einen individuell kaum zu ertragenden Druck, und wie zur Abwehr entstehen kollektive Eruptionen, von wutgetränkter Empathie bis zu religiösen Beschwörungen: der Satan in Moskau. Der jugendliche Antipode dazu ist Selenski als Popheld im Krieg der Sterne.
Es ist Zeit für Nüchternheit. Also setze ich ein paar unvollständige Gedanken zusammen, auf dass wir ohne Fanfare irgendwann die Welt wieder als eine Ganze denken können.
Als Robert Habeck unlängst die Vereinigten Arabischen Emirate besuchte, gab er sich mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad die Klinke in die Hand. Wo der Minister für neue Energiequellen jenseits der russischen anstand, wollte sich der syrische Kriegsverbrecher internationale Legitimität bestätigen lassen, nachdem die russische Luftwaffe seine Macht durch das Bombardement der Zivilbevölkerung gerettet hatte. Die Beinahe-Begegnung verweist auf die kurze Reichweite der nun gängigen dichotomen Weltbetrachtungen: Freiheit gegen Barbarei, Gut gegen Böse, Realisten gegen (schuldige) Träumer.
Reiche Staaten dürfen Partner selbst wählen
Die Herrscher der Golfstaaten gehen gerade auf Abstand zu den USA, blicken vermehrt nach China und stellen sich auf das Ende des transatlantischen Zeitalters ein. Die Emirate waren schon vorher das erste arabische Land, das Assad wieder die Hand bot, und sie stellten sich auch im Endloskonflikt in Libyen an Russlands Seite. Den reichen Monarchien ist erlaubt, was Europa einem armen Land wie Mali nicht gestattet: seine Partner, wie anrüchig immer, selbst zu wählen.
Erneut nach Syrien zu blicken ist kein Whataboutism. Der Westen sah dem Gemetzel dort zu, denn der „Krieg gegen den Terror“ (oder was Assad so nannte) schuf eine Gemeinsamkeit zwischen Europa, den USA und Putin – westlicher Realismus. An Syrien versagte gleichfalls die Friedensbewegung, brachte kaum einen Protest zuwege, weil das Freiheitsbegehren der Syrer:innen nicht in eine veraltete, verengte Variante von Antiimperialismus passte. Der linke Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh, über viele Jahre inhaftiert, hat sich dazu die Finger wund geschrieben.
Kein Fackelträger globaler Freiheit
Und er vermutet: Wie Putins Syrienpolitik vom Westen hingenommen wurde, dürfte den Autokraten zu anderen Ambitionen ermutigt haben. Nur spricht in diesem Fall niemand von Schuld, die sonst gerade so freihändig ausgeteilt wird.
Schlussendlich zeigt die Anekdote vom Golf: Menschenrechtlich einwandfreie Energie lässt sich nirgends kaufen. Die enge Verkettung der deutschen Wirtschaft mit der russischen Kriegsmaschine ist hochgradig fatal. Aber nährt sich westeuropäisches Wohlergehen nicht generell zu einem beträchtlichen Teil am Elend anderer, nur dann im Globalen Süden? Im Schatten des Kriegs verrotten gerade auf deutschen Regalen Millionen Impfdosen, die anderswo bitter fehlen. Nein, das lenkt nicht ab; die Entscheidung über den Stopp der Gaskäufe mögen Kundigere treffen. Doch stelle ich das Mega-Narrativ in Frage, mit dem nun alles zusätzlich aufgeladen wird: Der Westen als Fackelträger globaler Freiheit und seine Waffen gesegnet mit Gutem.
Solidarität verpflichtet nicht zur Glorifizierung
Die Ukraine braucht sichere staatliche Existenz in Souveränität; dem gilt der Slogan #StandWithUkraine. Aber die Vorkriegs-Ukraine mit ihrer Kombination von Armut und Oligarchentum, flankiert von nationalistischen Geschichtsbildern, war nicht gerade ein Systemideal. Das darf jetzigen Beistand nicht mindern, aber genauso wenig verpflichtet Solidarität zur Glorifizierung.
Die Dichotomien, die nun das politische Reden bestimmen, sind noch in anderer Hinsicht fadenscheinig. In Frankreich brachte der erste Teil der Präsidentschaftswahl zutage, wie weit der rechtsradikale antiislamische Kulturkampf ins Bürgertum vorgedrungen ist, zumal bei den französischen Katholik:innen, von denen 40 Prozent für die extreme Rechte votierten. Macrons Frankreich erodiert. Denn nicht die Höhe ihres Militärbudgets macht Demokratien „wehrhaft“, wie die neue stählerne Modevokabel lautet, sondern dies muss eine innere Qualität sein, die sich nicht zuletzt als Akzeptanz von Diversität und Vielstimmigkeit äußert.
Backlash gegen alles Hybride
Gewiss, manche wollen den Krieg nun für einen Backlash gegen alles Hybride, Postkoloniale, intellektuell Subversive nutzen, die ganze sogenannte westliche Selbstverunsicherung. Als sei es alternativlos, sich mit der Politik von Staaten, Nationen oder einem Militärbündnis zu identifizieren. Es liegt an uns, aus dieser Engführung des Denkens auszubrechen.
Der erste Schritt dazu wäre der Aufbau einer neuen, an Emanzipation und Deeskalation orientierten Friedensbewegung, mit einem allseitigen Begriff von Imperialismus. Die mythische Setzung, Putin verkörpere das absolut Böse, zwingt in einen unabsehbar fortgesetzten Krieg. Nüchternheit verlangt: Es muss dringend politische, diplomatische Initiativen geben. Warum nicht China einzubinden versuchen, neben der russischen Bevölkerung die einzige Kraft, die Putin in den Arm fallen kann? Muss nicht allein schon wegen der Millionen Hungernden außerhalb Europas, die die Hilfsorganisationen prophezeien, der Krieg schnellstmöglich gestoppt werden?
Es fehlt gegenwärtig so sehr an Menschen, die sich öffentlich mit Kenntnis und Augenmaß äußern und sich dabei der Souveränität zivilen Denkens sicher sind.
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