Problematische Corona-Öffnungen: Keine Solidarität für Gefährdete

Am 20. März soll ein Großteil der Corona-Maßnahmen wegfallen. Doch Risikogruppen sind auch weiterhin massiv gefährdet. Und nun?

Ein leeres Krankenbett

Karl Lauterbach hat allen einen tollen Sommer versprochen Foto: Alexander Ziegler/plain­picture

Ab dem 20. März sollen die Lockerungen der Corona­maßnahmen erfolgen. „Irgendwie haben wir das nach zwei langen Jahren verdient“, hat Olaf Scholz gesagt, als ob es dieses Wir überhaupt noch gäbe. Doch die Maßnahmen, die gelockert werden, sind Schutzmaßnahmen. Und es werden auch keine Beschränkungen aufgehoben, sie werden umverteilt.

Denn es ist nach wie vor so, dass viele Menschen – man nennt sie Risikogruppen – massiv vom Virus bedroht sind. Menschen, die sich selbst nicht schützen können, weil sie beispielsweise immunsupprimiert sind oder aus sonstigen Gründen einen schweren Verlauf fürchten müssen. Da eine Ausrottung des Virus nie ernsthaft zur Debatte stand, werden diese Menschen erst dann wieder ruhig schlafen können, wenn es eine ausgereifte Behandlung gibt.

Das Wir, das Scholz meint, das sind die Normalen und jene, die sich dafür halten. Das Ringen um die Maßnahmen war immer eines zwischen dem Wunsch nach Normalität und dem Leiden des Restes. „Irgendwie haben wir uns das verdient“ – Scholz tut so, als müssten sich die eigenen Bemühungen und Verzichtsleistungen nicht auf eine Realität außerhalb beziehen.

Mehr Freiheit für alle bedeutet weniger Freiheiten für Gefährdete. Denen sagt man mit der Aufhebung der Maßnahmen, dass sie noch mehr auf sich allein gestellt sind als bisher schon; und auch, dass man es ihnen dabei so schwer wie möglich machen wird: Sei es, dass man um jeden Preis die Schulpflicht hat durchdrücken müssen und so nicht nur Kinder mit vorerkrankten Angehörigen wissentlich zu Ge­fähr­de­r*in­nen gemacht hat.

Der soziale Druck steigt

Selbst vorerkrankte Kinder hatten ihr Leben zu gefährden, nur damit hinterher die Bildungsministerin aus Schleswig-Holstein und Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien (CDU), den Verstorbenen noch im besten „Querdenker“-Sprech hinterherruft, man müsse da schon differenzieren, ob die Toten an oder mit Corona verstorben seien. Kann schon sein, dass die Bildungsministerin Leben gefährdet, aber da wird man dann differenzieren müssen: Sie will es nicht, sie nimmt es nur hin.

Steigen wird für alle, die sich schützen wollen, auch der soziale Druck; denn was erlaubt ist, wird freilich auch gemacht. Arbeitsmeetings, Konferenzen, das Feierabendbier in der Kneipe: Wer die letzten zwei Jahre nicht bei jedem gefährdenden Szenario beide Augen zu und die Maske abgemacht hat, der ist jetzt isolierter als jemals zuvor. Und dazu keimt jetzt auch die Gewissheit, dass es nie die erste Prämisse war, die Gefährdeten möglichst unbeschadet mit durchzubekommen. Um eine Bekämpfung der Pandemie geht es nicht, nur die Überlastung der Krankenhäuser sollte vermieden werden.

Jene, die die letzten zwei Jahre über auf so viel verzichtet haben, um sich eben nicht anzustecken, sehen mit jedem dieser „Haben wir uns verdient“ -Stoßseufzer deutlicher, dass ihre Ansteckung und all die Folgen, die damit einhergehen, politisch eingeplant sind. Ihre Gesundheit darf den Rest nicht beim Biergartenbesuch stören.

Karl Lauterbach hat allen einen tollen Sommer versprochen. Das glaubt nur, wer es unbedingt glauben will; die eigentliche Chance dieser Krise lag darin, dieser Gesellschaft ein Programm zu geben, dass sie tatsächlich auf Vulnerable acht gibt. Aber das wurde lieber gelassen. Wäre halt unbequem. Also ja, es wird ein toller Sommer für viele, bis sie sich das erste, zweite, dritte Mal mit Corona anstecken und dann selbst auf Solidarität angewiesen sind; Solidarität, die sie zuvor verwehrt haben; und dann werden sie still leiden, im besten Fall sterben. Möglichst schnell, weil die Intensivbetten sind eben begrenzt.

Todeszahlen in Dänemark steigen an

Die bittere Lektion ist: Um das Recht auf eigene Unversehrtheit durchzusetzen, hätten sich die sogenannten Risikogruppen viel schneller und viel umfassender radikalisieren müssen. Dass jetzt eine Bildungsministerin die Tropen von Quer­den­ke­r*in­nen übernimmt, dass diese Bewegung mit ihren Schlagworten immer wieder die Debatte hat, wenn nicht bestimmen, dann doch beeinflussen können, ist auch dem geschuldet, dass ebenjene Risikogruppen zu lange daran geglaubt haben, dass sie schon Gehör finden würden und dass sie mitgemeint sind beim Scholz’schen „Wir“. Das sind sie nicht. Und es gibt nur einen Weg, damit sie das wieder werden: Sie werden es erzwingen müssen und die Angst, die sie jetzt verspüren, zurückgeben in die Gesellschaft; in die Politik.

Diese Angst ist ihnen perfiderweise in jeder Debatte vorgehalten worden als etwas Irrationales, Zerstörerisches. Sich liberal gerierende Kommentatoren haben diese Angst bei jeder Forderung nach Schutz als eine Gefahr für die Demokratie und den Zusammenhalt gebrandmarkt, und zwar von Beginn der Pandemie an. Währenddessen steigen in Dänemark, das die Öffnungen seit Anfang Februar umgesetzt hat, die Todeszahlen sprunghaft.

Die Vorstellung, dass die Pandemie jetzt beendet sei, weil „wir“ schon genug gelitten hätten, ist magisches Denken. Eine Pandemie endet nicht, weil irgendwer davon die Schnauze voll hat. Natürlich wird mal wieder erst hinterher klar sein, wer ganz genau den höchsten Preis dafür gezahlt hat. Denen wird man dann immer noch sagen können, sie hätten halt besser aufpassen müssen. Mit einem wie auch immer gearteten „Wir“ hat das allerdings nichts zu tun.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

▶ Alle Grafiken

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.