Kommentar Protestaktion gegen Polizisten: Unter jedem Mindeststandard
Aktivisten protestieren vor dem Haus eines Beamten, der nun viel Mitgefühl abbekommt. Damit haben sie das Gegenteil ihres Ansinnens erreicht.
D as ist die Nachrichtenlage: Sechzig Autonome belagern das Haus eines niedersächsischen Staatsschutzbeamten. Der Mann, dessen berufliches Tun sie verurteilen, ist nicht zu Hause, wohl aber seine Familie. Die DemonstrantInnen skandieren Sprechchöre, entrollen Transparente, betreten das Grundstück. Die Stimmung ist aggressiv. Dann kommt die Polizei.
Es ist nicht sein Büro, nicht die Dienststelle dieses Mannes, wo sich die Szene abspielt. Es ist sein Wohnhaus, sein Grundstück, sein privater Ort. Und das ist ein Problem. Mit wachsender politischer Gereiztheit nehmen die Angriffe auf das Privatleben der jeweils anderen Seite zu.
„Wir wissen, wo du wohnst“ – diese Drohung gab es schon immer. Für Linke müsste es eigentlich eine Frage demokratischer Selbstachtung sein, ebendieses Spiel nicht mitzumachen. Leute, die sonst brav auf der Polizeiwache vorsprechen, um ihre nächste Demo anzumelden, ziehen im Pulk vor das Wohnhaus eines politischen Gegners und ningeln anschließend per Pressemitteilung herum, sie hätten da lediglich friedlich singen wollen – was könnte ihr gesellschaftspolitisches Anliegen mehr diskreditieren?
Demos vor dem Privathaus eines rechten Publizisten, Schüsse auf Wohnhäuser linker PolitikerInnen, Abfackeln von Autos in angesagten Wohnvierteln, sogenannte Hausbesuche bei Staatsbediensteten, Internetpranger, Shitstorms – das Private ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren ist eine miese Tour. Das Gegenteil des Beabsichtigten wird damit erreicht, selbst wenn es um den größten Widerling geht. Einem Menschen den privaten Raum zu entziehen betrifft ja stets auch jene, die mit dieser Person zusammenleben. Und das bewirkt Mitgefühl.
Wer dennoch meint, sich unterhalb des gesellschaftlichen Mindeststandards begeben zu müssen, trägt zur weiteren politischen Eskalation bei. Da mögen die Autonomen aus dem Wendland sich noch so im Recht fühlen. Es gäbe so viele andere gute Möglichkeiten, politische Klugheit und Energie miteinander zu verknüpfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?