Soziologin über Konfliktsituationen: „Polizei ist keine Lösung für Gewalt“
Melanie Brazzell plädiert mit „Transformativer Gerechtigkeit“ dafür, Sicherheit neu zu denken – und eigenverantwortlich für sie zu sorgen.
taz: Frau Brazzell, Sie plädieren dafür, bei Gewaltvorfällen die Polizei nicht einzuschalten. Wieso?
Melanie Brazzell: Das hat verschiedene Gründe. Manche Menschen können oder wollen die Polizei in Konfliktsituationen nicht anrufen, weil sie sich dann selbst oder andere in ihrem Umfeld gefährden würden. Nach der Silvesternacht 2015/2016 in Köln forderten einige Organisationen als Teil der rassistischen Reaktionen einen besseren polizeilichen Schutz von Frauen. Dies nennen wir „Strafrechtsfeminismus“. Die Polizei ist aber keine Lösung für Gewalt. Im Gegenteil: Sie produziert und ermöglicht Gewalt. Diese Gewalt ist teils unsichtbar und normalisiert. Für Personen of Color oder Migrant*innen birgt ein Polizeieinsatz die Gefahr, dass es zu Racial Profiling oder Abschiebung kommt. Auch queere und Trans-Menschen erfahren oft Diskriminierung durch die Polizei. Häufig rufen Leute die Polizei, wenn sie sich in einer Krisensituation wiederfinden und auf diese nicht vorbereitet sind. Sie wollen die Verantwortung an den Staat abgeben. Wenn wir über Alternativen zur Staatsgewalt reden, müssen wir diese Verantwortung füreinander in unserem Umfeld übernehmen. Und uns auch weit im Voraus darauf vorbereiten, weil die Basis im Umgang mit solchen Situationen oft fehlt und viele Menschen damit überfordert sind.
Ist Selbstjustiz nicht gefährlich?
Ich arbeite mit den Konzepten „Transformative Gerechtigkeit“ und „Kollektive Verantwortungsübernahme“: Diese wurden von Frauen, nichtbinären und trans People of Color in den USA entwickelt. Die Wurzeln meiner Arbeit kommen aus diesen Communities, wo ich als weiße Frau selbst nur zu Gast bin. Sie zielen darauf, Sicherheit zu gewährleisten, ohne auf Bestrafung und staatliche Gewalt zu setzen. Nicht alles, was kollektiv organisiert ist, ist auf alle Situationen übertragbar. Rechtsradikale, die sich den Schutz vor sexualisierter Gewalt an Kindern auf die Flagge schreiben, entwickeln eigene Lösungsansätze, sind aber nicht emanzipatorisch. Eine Gruppe aus den USA, Generation Five, hat ein Buch zum transformativen Umgang mit Gewalt an Kindern herausgebracht. Ihre Feststellung ist: Es gibt Formen der Selbstjustiz und Rache, die nicht die grundsätzlichen Machtverhältnisse, die sexualisierte Gewalt an Kindern ermöglichen, angreifen. Diese Machtverhältnisse werden eher noch verstärkt. Selbstjustiz ändert nichts an den Wurzeln des Problems.
Angenommen, ich werde in der Disco sexuell belästigt. Was mache ich, statt 110 zu wählen?
Mein Ansatz ist nie, den Betroffenen Entscheidungsmöglichkeiten wegzunehmen, sondern Alternativen aufzuzeigen. Ich als weiße Frau hätte vielleicht bessere Chancen, mich mit dem Justizsystem auseinanderzusetzen. Aber da ich trotzdem das Gefühl habe, dass dieses System keine Heilung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung bringen kann, würde ich nicht dort anrufen. Es geht konkret darum, Beziehungen und Skills aufzubauen. Mit den Leuten, mit denen ich unterwegs bin, gut zu kommunizieren, aufeinander aufzupassen und bedürfnisorientiert zu reagieren, also zu gucken, was die Menschen tatsächlich brauchen. Das könnte möglicherweise Deeskalationsstrategien oder Selbstverteidigung beinhalten. Ich empfehle, dass Freund*innen miteinander über mögliche Krisensituationen reden und Sicherheitspläne erstellen, bevor etwas passiert: Wie gehst du mit rassistischen Beleidigungen in der U-Bahn um? Was sollen wir machen, falls dein Ex wieder auf der Party auftaucht? Wie kann ich dich unterstützen? Gibt es Beratungsstellen oder andere Ressourcen?
Stichwort Partner*innengewalt: Ich bin zu Hause, höre in der Wohnung über mir einen lauten Streit. Plötzlich knallt es. Was kann ich tun, außer die Polizei anzurufen?
Wenn Gewalt in intimen Beziehungen passiert, gibt es viele Gründe, weshalb die Polizei nicht unbedingt eingeschaltet werden sollte: komplexe Beziehungsgeflechte, Abhängigkeiten oder dass der Fall möglicherweise vom Gesetz nicht als Gewalttat anerkannt wird. Für Menschen, deren Aufenthaltstitel von ihrer Partner*in abhängt, könnte es ganz gefährlich sein. Oder die Beziehung zu Kindern aufs Spiel setzen. Wenn ich wahrnehme, dass es Gewalt in meiner Gemeinschaft gibt, muss ich mir überlegen, wie ich kurzfristig und langfristig reagiere. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Es ist gut, erst einmal bei anderen Menschen aus dem Haus zu klingeln und zu fragen, ob sie etwas gehört haben und ob sie etwas über die Situation wissen. Dann kann man zusammen hingehen und etwas sagen, Beziehungen aufbauen. Bei Partner*innengewalt ist es wichtig, zu verstehen, dass gut gemeinte Interventionen zu mehr Gewalt führen können. Daher muss der Kontext betrachtet und evaluiert werden.
Schützt das die betroffene Person dann unmittelbar?
Schutz vor staatlicher Gewalt: möglicherweise ja. Aber vor Beziehungsgewalt? Nicht unbedingt. Die Auswirkungen sind nicht zwingend einschätzbar. Es ist wichtig, das Umfeld der Person einzuschalten, zu mobilisieren und Unterstützung anzubieten. Ich arbeite ganz viel nach einem Modell von „Incite“, einem US-amerikanischen Netzwerk radikaler Frauen, nichtbinären und trans People of Color. Die waren die Ersten, die den Begriff „kollektive Verantwortungsübernahme“ geprägt haben. In ihrem Modell gibt es vier Bereiche: Unterstützung für Betroffene und Verantwortung für Gewaltausübende, das ist die zwischenmenschlichen Achse. Und die gesellschaftliche Achse mit Veränderung auf der gemeinschaftlichen Ebene und strukturellem Wandel. Um in diesen vier Bereichen etwas zu erreichen ist ein gewisser Grad Koordination notwendig. Unterschiedliche Menschen müssen zusammenarbeiten: Man muss die Gewalt ausübende Person konfrontieren oder in einem Änderungsprozess begleiten, die betroffene Person unterstützen und das Umfeld durch Präventionsarbeit sensibilisieren.
32, ist in den USA aufgewachsen und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Transformativer Gerechtigkeit. 2011 gründete sie in Berlin das Transformative Justice Kollektiv. Derzeit promoviert sie in Soziologie in Santa Barbara.
Sie beziehen sich auf US-amerikanische Konzepte. Sind die eins zu eins auf Deutschland übertragbar?
Das Toolkit ist ein Versuch, aus queerfeministischer Sicht im deutschen Kontext für die Abschaffung von Gefängnissen zu argumentieren. In Deutschland ist das Gefängnissystem ein anderes als in den USA, aber auch hier ist der Sicherheitsapparat des Staates kolonialrassistisch und genozidial gewachsen. Unser Toolkit vereint Beiträge von vielen deutschen Organisationen, die wichtigen Widerstand gegen diesen Sicherheitsapparat leisten. Sie machen tolle gemeinschaftlich basierte Arbeit gegen Gewalt wie Racial Profiling und Grenzregime. Trans und queere Gemeinschaften of Colorüben diese Alternativen schon lange sowohl aus Not als auch aus einer Vision für einen besseren Umgang heraus miteinander aus.
Bieten Sie neben dem Toolkit, das Sie zum Thema Transformative Gerechtigkeit herausgegeben haben, auch Workshops an?
Mein Kollektiv, das „Transformative Justice Kollektiv“, bietet Workshops und Prozesssupervision zu diesen Themen an. Da geht es darum, Leuten zu ermöglichen, füreinander zu sorgen und dies als ihre Verantwortung und politische Arbeit zu sehen. Wir haben das oft in weißen, linken Kontexten gemacht.
Wie gehen weiße, deutsche Linke mit Gewalt um?
Viele Gruppen sind total zerstört, wenn ein Fall sexualisierter Gewalt passiert. Ich habe den Eindruck, dass in der weiß-deutschen Linken der Fokus stark auf Ideologie, die richtige Position und eine akademische Analyse verschiedener gesellschaftlicher Verhältnisse gerichtet wird. Aber auf der zwischenmenschlichen Ebene fehlen oft ganz grundlegende Skills. Wie lebt man eine gute Beziehung? Wie übernimmt man Verantwortung, wenn man selbst Fehler gemacht hat? Die starke Moralhygienekultur führt dazu, dass Leute Angst haben, etwas falsch zu machen.
Wie äußert sich die Moralhygienekultur?
In den USA gibt es den Begriff calling out, dafür, wenn geoutet wird, dass sich jemand diskriminierend verhalten hat. Wenn die diskriminierende oder Gewalt ausübende Person eine Institution wie zum Beispiel den Staat oder eine Firma repräsentiert, ist ein kollektiver Umgang mit dem Vorfall keine Alternative. Aber wenn diese Person Teil der Gemeinschaft und Genoss*in ist, gibt es eine Idee von Ngọc Loan Trần. Sie heißt calling in und richtet sich an diejenigen in meinem Umfeld, von denen ich sage: Du und dein Lernprozess, ihr seid mir wichtig, daher versuche ich, dir zu erklären, warum dein Verhalten verletzend war, und dich zur Verantwortung zu ziehen. Nicht in einer Art, die auf Scham und Strafe und Moralhygiene zielt. Sondern anerkennend, dass du dieses Verhalten irgendwo gelernt hast und auch wieder verlernen kannst.
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