„Querdenken“-Demo in Leipzig: Und die Polizei guckt zu
Bei Protesten von Coronaleugner:innen in Leipzig wurden Journalist:innen angegriffen. Für die Polizei eine „weitestgehend“ friedliche Veranstaltung.
W er am Samstag in Leipzig auf der Straße war und nicht zu den knapp 45.000 Anti-Corona-Demonstrant:innen gehörte, der konnte eigentlich nur noch mit dem Kopf schütteln. Was dort geschah, war der pure Wahnsinn: eine Massenveranstaltung, bei der Menschen sich dicht an dicht drängen, ohne Mund-Nasen-Bedeckung. Mitten in einer globalen Pandemie, mitten in einem Lockdown.
Aber klar, für diejenigen, die gegen die Infektionsschutzmaßnahmen demonstrieren, ist das natürlich kein Problem. Schließlich geht es ja darum: Gegen die „Corona-Diktatur“, gegen das Impfen, gegen 5G-Strahlung und gegen die politischen Eliten. Angst davor sich anzustecken hat hier niemand.
Weder die ganz einfachen Familien, noch die Esoteriker:innen, Reichsbürger, Hippies, Revolutionsromantiker:innen, ja nicht einmal die Neonazi-Hools, für die der Mund-Nasen-Schutz bis unter die Augen gerade das richtige Maß an Vermummung bietet. Dass sogenannte Coronaskeptiker*innen dem Virus gegenüber skeptisch sind – nein, das wundert niemanden.
Was aber wundert – besser gesagt: absolut unbegreiflich ist – ist, wie diese Menschen zu Zehntausenden durch eine Innenstadt ziehen können und dabei größtenteils unbehelligt bleiben. Ja, sogar Polizeiketten durchbrechen und Journalist:innen zu Boden prügeln können, und dabei außer ein bisschen Pfefferspray und ein paar wenigen Festnahmen nichts passiert. Klar, es gibt in Deutschland eine Versammlungsfreiheit.
Zweierlei Maß der Ordnungshüter:innen
Und klar, die Stadt hat zuvor versucht, die Versammlung auf einen weitläufigen Parkplatz außerhalb der Stadt zu verlegen. Und klar, ein Gericht hat der Klage der Veranstalter stattgegeben, weshalb die Versammlung in der Innenstadt stattfinden musste. Sicher, sogar der sächsische Innenminister Roland Wöller (CDU) hat diese Entscheidung verurteilt. Aber: Das rechtfertigt noch lange nicht, dass die Polizei so gehandelt hat, wie sie es tat. Nämlich: so gut wie gar nicht.
Nein, die Polizei hat zugeschaut, wie die Teilnehmer der aufgelösten Kundgebung sich zu einem Pulk formierten, der dann Polizeikräfte und Reporter:innen angriff. Sie hat zugeschaut, wie jener Pulk schließlich Stunden nach der Auflösung über den Innenstadtring marschierte. Dabei war absehbar, was an diesem Tag passieren kann. Denn es war eine Eskalation mit Ansage. Szenen wie diese gab es schon 2018 in Chemnitz. Und sie haben Konsequenzen. Oder, wie die Journalistin Heike Kleffner twitterte:
Empfohlener externer Inhalt
„Große Sorge, dass #Leipzig die Radikalisierung der nächsten Generation #Rechtsterrorismus beschleunigt. Im Prozess zum Mord an Walter Lübcke hat einer der angeklagten Neonazis ausgesagt, der Tat-Entschluss fiel nach rassistischer Massenmobilisierung in #Chemnitz 2018.“ Was soll man also über die Prioritäten der Polizei denken, wenn Zehntausende Menschen inmitten des Höchststandes an Infektionszahlen sich dicht an dicht drängen und die Polizei es nicht schafft, sie nach Hause zu schicken?
Was soll man denken, wenn aggressive Neonazi-Hools Menschen angreifen und nichts passiert? Wenn hingegen wenige Stunden später Linke in Connewitz Gegenstände anzünden – dabei aber niemand zu Schaden kommt – und binnen Minuten Wasserwerfer und Räumpanzer angerollt kommen? Es ist entmutigend, Szenen wie die vom Samstag zu erleben. Zu erleben, wie sich Menschen radikalisieren und gewalttätig sind und die Staatsgewalt machtlos zuschaut.
Erst recht, wenn der Polizeisprecher im Anschluss sagt, man habe das Ziel, Gewalttaten zu vermeiden und einen friedlichen Veranstaltungsverlauf zu haben „weitestgehend erreicht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf