Politologe über AfD-Erfolge: „Nirgends eine Entzauberung“
Der Politologe Gideon Botsch spricht über den tiefen Einschnitt, den die Landtagswahl in Thüringen bedeutet – und über die nötigen Lehren daraus.
taz: Mit der AfD hat im September 2024 erstmals seit der NS-Zeit eine extrem rechte Partei eine Landtagswahl gewonnen und sogar die kritische Schwelle zur Sperrminorität überschritten. Wie tief ist diese Zäsur und ist sie gar ein Kipppunkt?
Gideon Botsch: Ich habe immer gesagt: Richtig beunruhigend ist es ab der Sperrminorität. Solange die AfD in einem Korridor ist, in dem sie aus eigener Kraft keine Verfassungsänderungen verhindern kann, können wir von einer gewissen Isolation ausgehen. Thüringen ist ein gravierender Einschnitt. Auch in Sachsen ist das nur sehr knapp verhindert worden und in Brandenburg ist es ebenfalls eine Gefahr. Die Wähler haben sich von demokratischen Parteien abgewendet, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – zugunsten von Parteien, die das nicht tun. Und zwar in Thüringen zu 50 Prozent, wenn Sie das BSW dazu nehmen.
taz: Noch Anfang 2023 sagten Sie, die Radikalität der AfD sorge dafür, dass die Partei politisch isoliert bleibe. Nun ist sie ebenso radikal und trotzdem in einigen Gegenden komplett normalisiert – auf kommunaler Ebene hat sie Bürgermeisterwahlen gewonnen und stellt einen Landrat. Auch auf Landesebene ist sie spätestens mit Thüringen ein Machtfaktor. Wie konnte das passieren?
Botsch: Wir haben drei Ebenen, auf denen wir die Erfolge analysieren müssen. Eine Ebene sind langfristige Elemente der politischen Kultur: die Bildung eines Milieus, auf dem die AfD aufsatteln kann, und die Verfestigung von rassistischen Einstellungen. Die zweite Ebene ist die Partei selbst: Wie ist der Akteur aufgestellt, wie politikfähig ist er? Wie viele Mitglieder und Sachverstand hat er? Die AfD ist geschickt darin, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Ansonsten ist sie ganz objektiv betrachtet eine brachial schlechte Partei. In der AfD werden Sie nicht etwas, weil Sie etwas können. Sie werden etwas, wenn Sie den richtigen Ton treffen und eine Stimmungslage ansprechen. Erfolg hat, wer möglichst radikal hetzt. Die dritte Ebene sind die Gelegenheitsstrukturen – besonders hier sind der AfD in den letzten anderthalb Jahren viele Möglichkeiten gebaut worden. Im Moment gelingt es der Partei, ihr Potential voll auszuschöpfen.
taz: Die demokratischen Parteien sind recht schnell zur Tagesordnung übergegangen. Ist das eine angemessene Reaktion?
Botsch: Die Uneinigkeit im Angesicht einer demokratiefeindlichen Bedrohung einerseits und die immer deutlichere Übernahme von AfD-Positionen andererseits – in der Hoffnung, damit Wähler zurückzugewinnen – hat in den vergangenen anderthalb Jahren diesen Erfolg der AfD erst ermöglicht.
taz: Wie könnte man gegensteuern?
Der Politikwissenschaftler hat sich vor allem als Rechtsextremismus-Forscher verdient gemacht und ist außerplanmäßiger Professor. Er leitet im Moses Mendelssohn Zentrum die Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus (EJGF) an der Uni Potsdam, arbeitete zuvor unter anderem in der Gedenk- und Bildungsstätte „Haus der Wannseekonferenz“. In einem Gutachten zu Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ kam er 2010 zu dem Schluss, dass Teile von Sarrazins Äußerungen „rassistisch, elitär und herabwürdigend“ seien.
Botsch: Indem man sich bei bestimmten demokratischen Grundlagen einig ist. Das ist bedauerlicherweise aufgegeben worden, insbesondere durch die Union. Aber leider nicht nur dort, wie Sie an der aktuellen Debatte um die Wiedereinführung von Grenzkontrollen sehen. Die AfD hat immer gesagt: „Die AfD wirkt“. Über lange Zeit konnten wir sagen: Nein, das tut sie nicht. Aber seit immer mehr demokratische Parteien hoffen, mit Übernahme von AfD-Politik die AfD klein halten zu wollen, muss man ihr da leider recht geben.
taz: Hinzu kommt eine medial negativ geframte Debatte um Flucht und Asyl, die vielfach von Fakten entkoppelt ist. Welche Rolle spielen hier Medien?
Botsch: Die Union entschied sich im Frühjahr 2023 dazu, der AfD mit einem scharf rechtspopulistischen Kurs zu begegnen. Die CDU hat mit den Grünen einen potentiell künftigen demokratischen Koalitionspartner zum Hauptgegner erklärt und versucht seitdem, diesen in der politischen Landschaft möglichst weit einzudämmen, wenn nicht zu beseitigen. Aber auch die aktuelle mediale Debatte trägt dazu bei – und die Art, wie über bestimmte Problemlagen und politisch-gesellschaftliche Handlungsfelder in der Migrationspolitik berichtet wird. Es ist geradezu absurd, was hier gerade passiert.
taz: Welche Fehler wurden langfristig gemacht?
Botsch: Mich besorgt seit langer Zeit der De-Facto-Rückzug der demokratischen Parteien aus der Fläche, die dort im Unterschied zur AfD nicht präsent sind – übrigens nicht nur in Ostdeutschland. Wir sehen im Grunde die Entfremdung eines Teils der Gesellschaft von der demokratisch-politischen Kultur der Bundesrepublik. Das schreitet seit bestimmt 20 Jahren voran. Natürlich gibt es Versuche, dem entgegenzusteuern, die ich nicht kleinreden will. Trotzdem ist diese Entfremdung feststellbar und sie drückt sich keineswegs nur in den Wahlergebnissen der AfD aus, sondern auch etwa in den Projektionen vieler Wähler*innen auf die Phantompartei BSW und Sahra Wagenknecht, die als Politikerin nun wirklich nicht für politische Leistungen berühmt ist.
taz: Wie ließe sich die Präsenz in der Fläche denn erhöhen?
Botsch: Was ich mit großer Neugier beobachte, ist eine Abkehr von landesweit vertretenen Parteien zugunsten von lokal verorteten Initiativen, Wählerlisten und Bürgerbündnissen. Das ist durchaus ambivalent: Da gibt es alle möglichen regressiven und autoritären Potentiale, aber es werden auch viele Menschen aktiv, die sich in erster Linie etwas für ihren Ort versprechen. Ihre Agenda setzt an Problemen an, aber sie wissen: Wenn man in der Kommune etwas erreichen will, sind die politischen Parteien nicht mehr Bündnispartner, sondern ein Hinderungsgrund, weil die Leute diese nicht wählen. Diese Menschen wollen politisch etwas leisten, aber ausdrücklich nicht in der AfD. Darin sehe ich auch ein demokratisierendes Potential.
taz: Wie lässt sich das nutzen?
Botsch: Die Parteien wären gut beraten, diese Entwicklung aufmerksam zu beobachten und mit den dort aktiven Menschen in Kontakt zu treten – nicht mit der Absicht, sie zu dominieren und zu Parteifußvolk zu machen, sondern mit der Absicht, sie als potentielle Bündnispartner zu sehen, ihnen zuzuhören und ihnen Angebote „auf Augenhöhe“ zu machen. Denn beim derzeitigen Zustand sind wichtige kommunale Interessen in der Landes-, Bundes- und Europapolitik nicht hinreichend repräsentiert.
taz: Aber steckt in dieser Entwicklung nicht letztlich auch jene Politikverdrossenheit, die AfD und BSW nutzen?
Botsch: Darin steckt viel Parteienverdrossenheit. Und auch ein autoritäres Potential: Wir wollen einen Macher als Bürgermeister. Besonders der Typus des „unpolitischen Bürgermeisters“ ist durchaus ambivalent. Aber diese Listen bleiben ein ernstzunehmendes Potential, das aus dem Bedürfnis nach positiven Entwicklungen heraus wächst – und nicht wie bei der AfD mit dem erklärten Ziel, die Politik in diesem Land lahm zu legen, um die Grundlage dafür zu schaffen, die Macht zu übernehmen.
taz: Höcke nennt die errungene Sperrminorität eine „Gestaltungsminorität“.
Botsch: Gestaltung wird hier negativ ausformuliert. Die AfD gibt überhaupt keine Hinweise darauf, was sie tun will – außer millionenfach abschieben. Es gibt keinen Hinweis, wie sie dieses Land verantwortlich führen und gestalten will – übrigens vom BSW auch nicht. Wer sich davon eine bessere Politik erwartet, sollte wissen, dass das ein ungedeckter Scheck ist. Die AfD hat sich nicht darauf vorbereitet, die Macht zu übernehmen oder ein Ministerium zu leiten. Sie hat weder Schattenkabinett noch Expertise. Die AfD ist keine Gestaltungs-, sondern eine Blockademacht. Was sich die Wähler davon erhofft haben, ist für mich ein großes Rätsel.
taz: Zuletzt wurden dennoch wieder Stimmen laut, die sagten: Lasst die AfD regieren, die werden sich dann schon durch ihre Inkompetenz entzaubern. Wie sehen Sie das?
Botsch: Die Empirie ist hier sehr deutlich: Die These von der Entzauberung ist nirgends eingetreten. In Großbritannien gab es keinen urwüchsigen Sieg über die Tories, der aus Entzauberung resultierte. Trotz ihrer klugen Strategie hat Labour vor allem deswegen gewonnen, weil die Tories nach Rechtsaußen verloren haben. Rechtspopulistische Akteure an der Macht versuchen, sich eine dauernde Mehrheit zu sichern – auch durch Manipulationen. Das britische Beispiel, aber auch Trump und Bolsonaro, sind nur bedingt mit den Verhältnissen in Kontinentaleuropa vergleichbar. Ich halte die These von der Entzauberung für sehr gefährlich.
taz: Der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz forderte zuletzt, dass die Union keinesfalls ihre transatlantischen Grundsätze über Bord werfen sollte, wie es Wagenknecht als Preis für eine Zusammenarbeit in Thüringen fordert. Dann solle doch lieber die AfD mit dem BSW zusammen regieren und sehen, wie sie und Thüringen damit zurecht kommen. Wie sehen Sie das?
Botsch: Mit Blick auf das BSW kann ich das gut verstehen. Polenz will eben nicht die Grundlagen unserer Politik in Frage stellen. Die Union wäre gut beraten, die Partei von Ordnung, Ruhe, Stabilität, Bündnistreue und der festen Einbindung in die transatlantische Wertegemeinschaft zu sein statt Stimmungslagen und Populisten hinterherzulaufen. Sonst könnte der CDU das drohen, was anderen westeuropäischen Mitte-Rechts-Parteien passiert ist: Dass sie tatsächlich bedeutungslos wird oder ganz verschwindet.
taz: Dann lieber riskieren, dass AfD und BSW zusammen regieren? Das wäre doch das Gegenteil von staatspolitischer Verantwortung!
Botsch: Wer soll denn im BSW regieren? Selbst wenn sich das BSW an einer Regierung beteiligt: Meinen Sie wirklich, dass da regiert wird? Gibt es da irgendein Zentrum der Willensbildung? Irgendeine Vermittlung in die Gesellschaft hinein, außer, dass man einen handverlesenen Kreis von Kumpels von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht zusammengetrommelt hat?
taz: BSW-Spitzenkandidatin Katja Wolf gilt in Thüringen als pragmatisch-verantwortungsvoll und war in Eisenach immerhin Oberbürgermeisterin. Und ist es nicht wohlfeil mit Blick auf Betroffene in Thüringen, einen AfD-Ministerpräsidenten zu riskieren?
Botsch: Es bleibt ein tiefes Dilemma. Thüringen wird gerade unregierbar gemacht. Das allein ist das Interesse der AfD. Aber bei der Rede von einem mitregierenden BSW gucke ich als Politikwissenschaftler etwas irritiert. Wagenknecht hat keinen Geheimplan dafür. Sie hat eine Reihe von wirksamen Talkshowphrasen, aber keinen substantiellen Kern, wie man über das Bedienen von Stimmungen und kulturellen Verwerfungen hinaus dieses Land gestalten will. Weder das Bundesland noch die europäische Politik.
taz: Aber ist nicht alles besser als noch mehr Spielraum für die AfD?
Botsch: Die AfD ist ohnehin im Moment der Profiteur. Die Partei sitzt vor einer perfekten Situation: Wenn ich AfD-Politiker wäre, würde ich mir eine Minderheitsregierung wünschen, an der ich nicht beteiligt bin, und dann könnte man Schlitten fahren mit dieser Regierung. Und ich vermute, so ähnlich wird es kommen. Es wird eine instabile Form einer Regierung mit sich gegenseitig behindernden Kräften geben. Das macht regieren immer schwerer. Im Grunde haben die Wähler der AfD und nun auch des BSW in Thüringen das herbeigeführt, über das sie immer schimpfen: Dass dieses Land unregierbar ist. Auch die Ampelkoalition im Bund ist ja eine Folge der erstarkten AfD. Es ist ein Teufelskreis.
taz: Im Zusammenhang mit der Landtagswahl wurden immer wieder historische Vergleiche zum NSDAP-Mustergau Thüringen gezogen. Inwiefern halten Sie solche historischen Analogien für angebracht? Kann man daraus lernen oder versperrt es vielmehr die Klarsicht auf die aktuelle Situation?
Botsch: Wir haben andere Verhältnisse: Geschichte wiederholt sich nicht – auch nicht als Farce. Aber natürlich ist die thüringische AfD sehr dicht am Neonationalsozialismus dran, wenn nicht gar nazifiziert. Höcke und sein Vorfeld kennen die historischen Vorbilder und hoffen, eine ähnliche Situation zu erzeugen. Sie wollen von Thüringen aus ein Sprungbrett für die Machtergreifung im nationalen Rahmen schaffen. Die NS-Nähe der Positionen der Höcke-AfD in Thüringen sollte uns nicht entgehen. Höcke verwendet permanent Zitate aus dem Nationalsozialismus.
taz: Wie sieht es in Brandenburg aus?
Botsch: Nicht viel anders. Schauen Sie sich mal an, wer so ganz normale Teilnehmer der AfD-„Sommerfeste“ in Brandenburg sind: Gruppen von teils sehr jungen Männer, die im Auftreten wirklich den Neonazismus der 2000er oder der 90er kopieren oder offen NS-Symbole als Tattoos oder T-Shirts tragen. Sie schauen nicht zu als kleine, neugierige Gruppen am Rand, sondern sind Kern der Veranstaltung. Zitationen des NS sind im Erscheinungsbild sehr deutlich. Das ist ein Teil der Klientel. Das ist normal geworden in der AfD.
taz: Mit Blick auf die Migrationsdebatte scheint es hierzulande gerade nur in eine Richtung zu gehen. Gibt es aus Ihrer Sicht keine Hinweise darauf, wie sich Mitte-links weiter normalisieren statt marginalisieren kann?
Botsch: Das, was ich für die Flächenländer für die zentrale Aufgabe halte, ist der Gang zurück an die Basis. Das gilt leider nicht erst seit gestern. Mich besorgt schon lange, wie wenig präsent die Parteien etwa in Brandenburg außerhalb von Potsdam sind. Sie orientieren sich auf Potsdam, Berlin und Brüssel. Wir müssen jetzt überlegen: Was ist los in Zossen, Lübben und der Uckermark? Das ist kein Generalrezept, um aus der Misere rauszukommen, aber ein Anfang.
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