Petition gegen „Catcalling“: Raus aus der gesetzlichen Grauzone
Hinterherpfeifen, Sprüche, Machtdemonstration: Eine Petition will einen eigenen Straftatbestand für so genanntes Catcalling erwirken. Bringt das was?
„Wie viel?“, fragte mich einer der beiden Männer. Mein Freund und ich saßen auf einer kleinen Mauer in der Pforzheimer Innenstadt und warteten auf den Bus. Es war heiß, vermutlich Juli oder August. Nach unserem Freibadbesuch war mein Bikini noch nicht vollständig getrocknet und hatte nasse Flecken auf meinem Top hinterlassen. Für die zwei Männer in der Innenstadt schien das Anlass genug zu sein, um auf meine Brüste zu starren.
Auf die Frage des einen erwiderte ich nur einen irritierten Blick. „Wie viel, dass ich sie ficken darf?“, schob er nach. Die Frage war wohlgemerkt an meinen Freund gerichtet, nicht an mich. Als von uns beiden weiterhin nur Schweigen zu hören war, wandten sie sich lachen ab.
Gut 13 Jahre ist das nun her, ich war damals 16. Den Begriff „Catcalling“ kannte ich zu der Zeit zwar noch nicht, doch es ist die Erfahrung damit, an die ich mich heute noch erinnern kann.
Eine deutsche Entsprechung für den Begriff „Catcalling“ gibt es nicht, man könnte „verbale sexuelle Belästigung“ sagen. Hinterherpfeifen, Sprüche wie „Hey Sexy“ oder „Komm mal rüber, Süße“, eine „Einladung“, ins Auto einzusteigen, oder Kussgeräusche – all das sind Formen von Catcalling. Und für viele, hauptsächlich Frauen, sind sie Teil des Alltags am Arbeitsplatz, auf der Straße und an anderen öffentlichen Orten. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums haben 44 Prozent der befragten Frauen schon einmal sexistische Übergriffe in Deutschland erlebt. Die Hälfte davon hat verbal stattgefunden. In anderen Studien liegt die Zahl der Betroffenen noch deutlich höher, bis zu 85 Prozent.
Obwohl durch mehrere Untersuchungen gesichert ist, dass Catcalling negative Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen hat, ist es kein eigener Strafbestand in Deutschland. Sexuelle Übergriffe sind zwar nach Artikel 177 StGB verboten, doch für diesen Strafbestand muss es Berührungen gegeben haben. Sexuelle Zudringlichkeit fängt allerdings schon vor der Berührung an. „Verbale Beleidigungen“ sind nach Artikel 185 zwar auch verboten, doch letztlich schwer zu ahnden und der Sexismus-Aspekt wird dabei nicht berücksichtigt. Catcalling bleibt also in einer gesetzlichen Grauzone. Die 20-jährige Studentin Antonia Quell möchte das nun ändern und hat deswegen die Petition „Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein.“ gestartet.
Quell hat die Petition aus persönlicher Betroffenheit heraus gestartet. Sie sei selbst schon häufig von Catcalling betroffen gewesen. „Ich bin einfach jedes Mal schockiert, was sich einige Menschen in unserer Gesellschaft so leisten, und wollte dagegen etwas unternehmen“, sagt sie gegenüber der taz. Und damit ist sie nicht allein: Innerhalb von einem Monat haben über 50.000 Menschen die Petition unterschrieben. Diese möchte Quell nun Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) übergeben und beim Bundestag einreichen, damit sich der Petitionsausschuss damit auseinandersetzen muss. Ein erster Schritt auf einem möglichen Weg zur Gesetzesänderung.
Die hohe Dunkelziffer
Es ist April 2020, die Coronapandemie hat ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Beim Spazierengehen am Landwehrkanal in Berlin-Neukölln begegne ich einem jungen Mann auf einem Fahrrad, der neben mir zum Stehen kommt und fragt: „Hey Süße, Bock eine Runde auf meinem Gepäckträger mitzufahren?“ Ich lehne dankend ab. Er steigt wieder auf seinen Sattel, fährt weiter und ruft mir zu: „War ’n Witz, bist mir eh zu fett.“ Mein Entsetzen und meine Sprachlosigkeit der Jugend habe ich mittlerweile verloren, ignoriere solche Sprüche bewusst oder versuche schlagfertig zu reagieren. Nervig und herabwürdigend bleibt Catcalling trotz allem. Anzeige erstatten würde ich vermutlich trotzdem nur in Ausnahmefällen.
Dass es vielen Betroffenen so geht, zeigen Zahlen aus Ländern, in denen Catcalling bereits ein eigener Strafbestand ist, wie in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Portugal oder den Philippinen. Seit 2018 werden in Frankreich Menschen mit einem Bußgeld von bis zu 750 Euro belegt. Wenn die Betroffene unter 15 Jahre alt ist, können es bis 1.500 Euro sein. Laut der für Gleichstellung zuständigen Staatssekretärin Marlène Schiappa wurden im ersten Jahr rund 700 Bußgeldzahlungen fällig. Doch die Dunkelziffer der Betroffenen wird weitaus höher liegen.
Noch weniger Anzeigen gab es in Belgien, wo sexistische Beleidigungen seit 2014 mit Bußgeldern und Strafbefehlen belangt werden. In den ersten vier Jahren gab es lediglich 25 Anzeigen und nur eine einzige Verurteilung. In diesem Fall hatte ein junger Mann im Juni 2016 eine Polizistin als „dreckige Hure“ beschimpft und ihr nahegelegt, sich einen für eine Frau passenden Job zu suchen. Er wurde zur Zahlung eines Bußgeldes von 3.000 Euro verurteilt. Dass es zu diesem Urteil kam, liegt wohl vor allem daran, dass mehrere Polizeibeamte Zeugen des Vorfalls waren. Doch nur in den seltensten Fällen steht die Polizei gerade daneben, wenn man Catcalling erfährt.
Bewusstsein der Gesellschaft schärfen
Die Fälle aus Deutschlands Nachbarländern zeigen, dass die Einführung eines eigenen Strafbestands nicht das ultimative Mittel gegen Catcalling sind. Denn meistens handelt es sich um flüchtige Alltagsbegegnungen – und juristisch zu beweisen, dass Hinterherpfeifen eine sexistische Komponente hat, ist mitunter schwer. Einfacher sieht es da bei Beleidigungen aus, die einen konkreten sexistischen Bezug haben, doch auch hier braucht es Beweise oder Zeug:innen zur Verurteilung. Und obwohl es gesellschaftlich klar ist, dass Catcalling keine Komplimente sind, ist es juristisch nicht so einfach zu definieren.
Zudem fordert eine Anzeige emotionale und zeitliche Ressourcen der Betroffenen. Wie schwer es in Deutschland wäre, Catcalling zu bestrafen, hängt auch von der Form des Gesetzes ab.
Quell sieht die Problematik und verweist auf Nachfrage auf andere sexualisierte Gewalttaten: „Bei Vergewaltigungen ist die Verurteilungsrate auch gering, doch diese gewaltvolle Übergriffsform sollte natürlich trotzdem strafbar sein“, sagt sie. Für die Studentin soll die Einführung des neuen Strafbestandes auch ein Zeichen gegen Victim Blaiming sein. „Die Tatsache, dass man eine gesetzliche Absicherung hat, ist für die Betroffenen emotional wichtig. Denn wenn ein Verhalten illegal ist, wird den Opfern versichert, dass es nicht ihre Schuld ist, was sie erleben, egal wie sie aussehen und was sie anhaben“, sagt sie.
Für Quell geht es auch darum, das Bewusstsein der Gesellschaft für Catcalling zu schärfen. Sie ist nicht die Erste, die das versucht. Im Jahr 2014 ging das Video „10 Hours of Walking in NYC as a Woman“ online. Darin zu sehen ist, wie die Schauspielerin Shoshana Roberts in verschiedenen Bezirken von New York, ausgestattet mit einer versteckten Kamera, spazieren geht. In dem zweiminütigen Ausschnitt bei Youtube wird von 108 Zwischenfällen berichtet. Diese reichen von einem einfachen „Hallo“ bis hin zu minutenlangen Verfolgungen und sexistischen Sprüchen. Das Video wurde seitdem 49 Millionen Mal gestreamt und löste eine Debatte über die Sicherheit von Frauen auf der Straße aus. Gleiches passierte, nachdem ein paar Jahre später eine 20-jährige Studentin aus Amsterdam Fotos von ihren Catcallern bei Instagram postete.
Diese Aktionen haben jedoch nicht nur eine Debatte angeregt, sondern auch Widerstand mit sich gebracht. Denn in den Köpfen vieler wird Catcalling noch als (missglückter) Flirtversuch gelabelt. Ähnlich abwehrende Reaktionen sind auch bei Quells Petition zu lesen: „Freu dich doch über die Komplimente“ oder „Wenn es dir nicht gefällt, dann ignorier die Sprüche doch einfach“, kommentieren nicht wenige.
Die Einführung eines eigenen Strafbestands könnte im Idealfall dazu führen, dass die Gesellschaft in Catcalling keine Komplimente mehr sieht, sondern übergriffige Machtdemonstration. Und ob die Einführung von Bußgeldern auch eine abschreckende Wirkung auf andere mit sich bringt, müssten Langzeitstudien aus den besagten Ländern zeigen. Doch selbst wenn nur ein Bruchteil der Betroffenen bereit ist, Anzeige zu erstatten, würde eine Gesetzesänderung doch wenigstens eine wichtige Symbolkraft vorausgehen. Nämlich die, dass Sexismus auf der Straße keinen Platz hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen