Virales Essay über Machtmissbrauch: Keine Grauzonen

Grenzt ungewollte Zuneigung an sexualisierte Gewalt? Eine junge Frau hat über ihre schmerzhaften Erfahrungen mit einem Schauspieler geschrieben.

Portrait während Photocall

„The Movie Star and Me“ heißt der Text der Theaterregisseurin Domenica Feraud Foto: action press

Sexualisierte Gewalt ist, so scheint es, eindeutig definiert: Ein Mensch wird von einem anderen Menschen zu sexuellen Handlungen gezwungen. Was genau sexuelle Handlungen sind, ist immer wieder Gegenstand der Debatte. Es gibt Grauzonen, die oft weniger grau sind, als es zunächst den Anschein hat. Denn auch Taten, die rechtlich nicht belangt werden können, sind teilweise moralisch zu verurteilen.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

In den USA wird über ein Essay diskutiert, das die 28-jährige Theaterautorin Domenica Feraud kürzlich im Onlinemagazin Medium veröffentlichte. „The Movie Star and Me“ ist ein fast 10.000 Wörter langer schmerzhafter und schonungsloser Text, in dem sie eine Erfahrung verarbeitet, die uns zeigt, wie fließend die Grenzen von Grauzone zu Übergriffigkeit sein können.

Vermutlich im Herbst 2016 macht die damals 23-Jährige ein Praktikum bei einer großen Theaterproduktion am Broadway; ihre Mentorin, mit der sie seit Jahren zusammenarbeitet, hat sie ins Boot geholt. Der Star des Theaterstücks ist ein bekannter Hollywood-Schauspieler, zu dem Zeitpunkt 35, fast 36 Jahre alt. Chronologisch berichtet die Autorin von ihren Begegnungen mit ihm.

Wie er ihr am ersten Tag, als sie sich hinter den Kulissen verloren fühlt, seine volle Aufmerksamkeit schenkt, Witze über Oralsex macht, sie eine Spur zu fest umarmt. Wie er seinen Pulli über ihre Beine legt, als sie fröstelt, ihr jeden Morgen schreibt. Wie er seinen Kopf in ihren Schoß legt für einen „Mittagsschlaf“, während sie nicht weiß, was sie mit ihren Händen anstellen soll. Wie er sie zu sich einlädt, Witze darüber macht, sie sollten heiraten, wie sie sich küssen und sie Angst hat, er könne merken, wie unerfahren sie ist. Und wie er sie aus dem Nichts komplett ignoriert.

Überschüttet mit Zuneigung, komplett ignoriert

Vom ersten Tag an ist das kein harmloses Flirten, sondern wirkt wie aggressives Jagdverhalten. So aggressiv, dass die junge Praktikantin keinerlei Gelegenheit hat, sich darüber klarzuwerden, was sie selbst will; zu Beginn fühlt sie sich sogar leicht abgestoßen von ihm. Aber alle um sie herum ermutigen sie, auf die Avancen des Schauspielers einzugehen. „Es kam mir nicht in den Sinn, dass das, was er gesagt hatte, unangemessen war: Ich dachte, es sei normal, alle taten so, als sei es normal.“

Auf eindringliche Weise schildert Feraud, was diese Überschüttung seiner Zuneigung, abgewechselt von einem gelegentlich vollkommenen Desinteresse, mit ihr macht. Sie kann nicht mehr essen, schlafen, fühlt sich benutzt und sagt trotzdem nicht nein zu ihm. Letzteres wirft sie sich heute noch vor. „Ich sagte: ‚Nein, es ist mir nicht unangenehm.‘ Und weil ich diese Worte ausgesprochen habe, frage ich mich, ob ich das Recht habe, diesen Essay zu veröffentlichen.“ Es ist bemerkenswert, wie klar Feraud ihre Gefühle analysiert, wie viel Einblick sie gewährt in ihre Unsicherheiten.

Nachdem sie sich wegen Dreharbeiten einen Monat lang nicht sehen, besucht sie den Schauspieler zu Hause. Als er schon nackt über ihr ist, platzt es aus ihr heraus: „Ich kann heute keinen Sex haben.“ „Dankbar“ dafür, dass er sie nicht bedrängt, performt sie Oralsex an ihm. Kurz danach ghostet er sie.

Eindeutiges Fehlverhalten

Jahre später hört Feraud davon, dass der Schauspieler einen gewissen Ruf dafür hat, sich in Praktikantinnen und Assistentinnen zu „verlieben“, um sie nach einem Monat wieder zu vergessen. „Als ich aus dem Mund einer anderen mein Leben erzählt bekam, hatte ich das Gefühl, in einen Abgrund zu fallen. Mein erster Gedanke war nicht: ‚Er ist ein Raubtier, das es auf Frauen abgesehen hat, die für ihn arbeiten. Sondern: Wie konntest du nur so dumm sein?‘“

Die Anspielungen im Text legen nahe, dass es sich bei dem berühmten Schauspieler um Jake Gyllenhall handelt. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Er spielte im Oktober 2016 die Hauptrolle im Broadway-Musical „Sunday in the Park with George“. Ferauds Essay ist mit einem Ausschnitt aus dem Kurzfilm zu Taylor Swifts Songs „All To Well“, in dem es um ihre kurze Beziehung mit Gyllenhaal im Jahr 2010 gehen soll, bebildert.

Doch für die Debatte spielt es keine Rolle, wer der Schauspieler ist, denn die Dynamik ist nicht neu, Ferauds Geschichte kein Einzelfall: Ein Mann in einer eindeutigen Machtposition (älter, berühmter und/oder reicher) stellt einer jungen Frau (unerfahren, leicht zu feuern) nach, die sich nicht zu wehren weiß. In Ferauds Fall sind das nicht nur ungewollte Avancen, sondern ein eindeutiges Fehlverhalten des Schauspielers, der ihr zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit gibt, selbst zu wählen, was sie eigentlich will. „Ich werde nie erfahren, was meine wahren Gefühle waren, weil er Grenzen überschritt, die für ihn nicht existierten, Grenzen, von denen ich nicht wusste, dass ich sie schützen musste.“

Vom Love Bombing zum Ghosting

Ebenso erschreckend wie dieses im Englischen als „Love bombing“ bezeichnete Verhalten des Mannes, also der Versuch, eine andere Person durch das wiederholte Zeigen von Aufmerksamkeit und Zuneigung zu beeinflussen – laut Psy­cho­lo­g*in­nen potentiell Teil eines Missbrauchskreislaufes –, ist auch das Verhalten aller Menschen in ihrem Umkreis.

Die Mentorin und die Produzentin des Stücks, die die junge Praktikantin als ausschlaggebend für die Performance des Schauspielers identifizieren und sie in seine Richtung drängen, die anderen Mitarbeitenden des Theaterstücks, die schulterzuckend zusehen, die Freundinnen, die jedes einzelne Detail aufsaugen, als wäre es ein Märchen, und noch Jahre später darauf hoffen, er würde eines Tages zurückkommen zu ihr und zu seinen Gefühlen stehen, und nicht zuletzt die Eltern, die von dem Verhältnis wissen und ihrer Tochter offensichtlich keinen Rückhalt geben. Sie alle machen sich in einer Form mitschuldig.

Das vermindert natürlich nicht seine Schuld. Aber dieser Text sollte uns als Gesellschaft eine Lehre sein: In krassen Hie­rarchien und bei eindeutiger Manipulation benötigen diejenigen, die im Zentrum dieser ungewünschten Aufmerksamkeit stehen, Hilfe von Nahestehenden. Der Schauspieler macht sich im rechtlichen Sinne nicht schuldig. Gezwungen hat er sie nie – aber manipuliert die ganze Zeit. Und da hört die Grauzone auf, eine Grauzone zu sein. „Es ist schwer, in einer Grauzone zu leben, die eigentlich gar nicht grau ist, diejenige zu sein, die sich sagt, dass das, was passiert ist, inakzeptabel ist, während alle so tun, als hättest du in dem Moment, in dem er dich angräbt, im Lotto gewonnen“, so Feraud. „Ich glaubte, ich lebe in einem Märchen, und die Gesellschaft unterstützte dieses Narrativ. Aber es war ein Albtraum, der mich immer noch schmerzt … Das ist das Märchen nicht wert.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Ein Kopfhörer - das Symbol der Podcasts der taz

Entdecke die Podcasts der taz. Unabhängige Stimmen, Themen und Meinungen – nicht nur fürs linke Ohr.

Feedback willkommen! Wir freuen uns auf deine Gedanken, Eindrücke und Anregungen.

Schreib uns: podcast@taz.de

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.