Palästinenser im Nahostkonflikt: Beharren auf der Opferrolle
Israel ist eine Demokratie und kein Apartheidstaat. Arabische Bürger könnten ihre eigene und die Situation des Landes deutlich verbessern.
D er Bundestag hat am 17. Mai 2019 die propalästinensische BDS-Kampagne als antisemitisch verurteilt. Ein wichtiger Schritt im Kampf gegen Antisemitismus. Wenn ich an Schulen oder anderen Orten mit Gruppen von Jugendlichen in Deutschland diskutiere, wundern sie sich oft über mich. Staunend bis ungläubig fragen sie mich, wie das alles möglich sein kann: Ich bin ein deutscher und israelischer Araber, geboren in einem kleinen Ort nahe Tel Aviv, in Israel bin ich zur Schule gegangen, hatte ein staatliches Stipendium fürs Studium der Psychologie in Tel Aviv, meine jüdischen Professoren haben meine Arbeit geschätzt und gefördert. „Was, Sie konnten in Israel zur Schule gehen? Viele schütteln den Kopf: Das kann doch nicht sein! Die Vorurteile gegen und Verschwörungstheorien zu Israel sind auch in Deutschland und unter Migranten immens. Oft muss ich alles von vorn erklären, derart mager ist das Wissen.
Heute leben fast 1,8 Millionen Araber in Israel. Bei einer Einwohnerzahl von insgesamt rund neun Millionen ist damit jeder fünfte Israeli arabisch-palästinensischer Herkunft, wie ich, der ich inzwischen beide Pässe habe, den israelischen und den deutschen. Auch die übrigen 1,8 Millionen Araber können in Israel die Schule besuchen, studieren, protestieren, Ausbildungen machen, wählen. Sie können sich für die Rechte der Palästinenser engagieren, arbeiten und dabei meist besser verdienen als in den meisten angrenzenden arabischen Ländern. Ob Juden oder Araber, alle haben Rechte in Israel, wie in jeder anderen Demokratie.
Man sieht es täglich in Einkaufszentren, an Stränden, in Krankenhäusern und überall sonst im Land: Menschen unterschiedlicher Herkunft arbeiten zusammen, und manchmal feiern sie auch gemeinsam, besuchen dieselben Konzerte, Diskotheken, Strände. Am 30. Juni 2019 wurde Samer Haj-Jehia zum neuen Vorstandsvorsitzenden der Bank Leumi ernannt, ein israelischen Nationalbank. In Israel arbeiten Araber gemeinsam mit Juden in Hightech-Unternehmen, als Ärzte, Schwestern und Pfleger in Krankenhäusern oder bei der Polizei. Zum ersten Mal hat jetzt sogar ein Araber die Leitung einer größeren Bank des Landes übernommen. Das ist sogar unter Netanjahu möglich, man höre und staune.
Dabei ist unser Land zweifellos alles andere als perfekt. Ich sitze keinesfalls der Utopie des Gelobten Landes auf und erkenne durchaus viele Benachteiligungen der Araber in Israel, die während eines seit mehr als 70 Jahre andauernden Konflikts zwischen der arabischen Welt und Israel entstanden. Jedoch könnten Israels Araber, wenn sie nur ihre demokratischen Optionen sinnvoll nutzen würden, weitaus mehr politische und produktive Macht gewinnen. Sie müssten nur demokratische Parteien gründen oder wählen, sie müssten sich überhaupt nur mehrheitlich endlich an den Wahlen beteiligen. Längst wäre Netanjahu abgewählt. Längst hätten wir bessere, politische Verhältnisse, weniger provokante Siedler, eine Regierung, die die Gleichberechtigung aller mehr achtet und umsetzt.
Leider ist es nicht so. Leider entscheiden sich die arabischen Parteien und Splitterparteien Israels seit Jahrzehnten eher dafür, untereinander zu streiten und dabei die Bedürfnisse ihrer Wählerschaft komplett zu ignorieren. Ihr Einsatz gilt vor allem der Bevölkerung in Gaza statt den Arabern in Israel. Sie handeln mit ihnen wie mit einem Unterpfand, wie mit ihren Geiseln, deren zerlumpte Kinder sie zur Schau stellen, um Israel zu diskreditieren. Dabei könnte sich am meisten verändern, wenn sie ihre real existente Macht, ihre Möglichkeiten in Israel selber nutzen würden, demokratisch, pragmatisch, sozial und konstruktiv und nicht so wie jetzt. Nicht religiös sektiererisch, hochideologisch, zerstritten und verbissen. So wie jetzt verlieren arabische Politiker konstant an Vertrauen und Einfluss in der israelischen Politik, nur wenige sitzen in der Knesset, dem Parlament in Jerusalem.
Mit meiner Erfahrung ist es mir ein Bedürfnis, allen „Israelkritikern“ und Sympathisanten der Boykottaufrufe gegen mein Land – wie der infamen BDS-Kampagne – zuzurufen: Israel ist weder ein „Unrechtstaat“ noch ein „Apartheidstaat“. Es herrschen bei uns weder Rassentrennung noch systematische Unterdrückung. Vergleiche mit dem früheren Apartheidregime in Südafrika oder kolonialen Systemen der Vergangenheit gehen fehl. Sie sind absurd. Hierin pflichten mir übrigens die meisten arabischen Israelis, die ich kenne, bei. Sicher, wie jede Demokratie hat Israel Stärken und Schwächen, und unser Land befindet sich in einer prekären, häufig von den nichtdemokratischen Nachbarn bedrohten Lage. Dennoch ist Israel nicht mit Diktaturen der Gegenwart oder Vergangenheit zu vergleichen.
Zweifellos gibt es im Zusammenleben auch immer wieder Konflikte. Es ist auch unbestritten, dass im Angesicht dieses oft gewaltsam ausgetragenen Konflikts immer wieder erschreckende Situationen entstehen, in denen Rache und Hass eine Rolle spielen. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass in Israel auch unter Juden und Arabern darüber gesprochen und gestritten wird, dass jeder seine Meinung sagen und für bessere Verhältnisse eintreten darf.
Der Nahostkonflikt ist vielschichtig, er ist komplex. Daher ist auch eine Lösung des Konflikts nicht einfach. Es müsste auf beiden Seiten Führungseliten geben, die bereit sind, Kompromisse einzugehen. Die entscheidenden Friedensakteure müssten aus der Region kommen, nicht von außen. Europäische oder amerikanische Akteure können nicht nachhaltig für Frieden sorgen, wir Israelis müssen das selber leisten. Nur dann kann an einer dauerhaften Lösung gearbeitet werden, an einer Zwei-Staaten-Lösung.
Die Araber akzeptierten den Teilungsplan von 1947 nicht
Warum? Auch das muss ich den Jugendlichen in Deutschland überall erklären. Nach der Herrschaft der Nationalsozialisten, die in der unfassbaren Grausamkeit des Holocaust kulminierte, wuchs das Bedürfnis bei Juden aus aller Welt nach einer sicheren Heimat, einem eigenen Staat als Rettung aus der Not. Der UN-Teilungsplan von Palästina wurde 1947 von der UN-Generalversammlung verabschiedet. Er sah ein Ende des britischen Mandats vor und die Aufteilung des Gebietes in einen Staat für Juden und einen für Araber. Israel akzeptierte den Beschluss. Nicht so die Araber. Viele fühlten sich um ihr Land betrogen, viele flüchteten in Nachbargebiete, aus denen wiederum jüdische Bevölkerung vertrieben wurde. NS-Propaganda hatte zuvor schon den Antisemitismus in der Region entfacht, unter anderem durch den von Hitler hofierten Großmufti von Jerusalem. Sein fatales Wirken kommt in deutschen Schulbüchern bisher, soweit ich weiß, nicht vor.
Unmittelbar nach der Gründung des Staates Israels 1948 bildeten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak eine Allianz. Sie sprachen Israel das Existenzrecht ab und griffen den neu entstandenen Staat an, um ihn „von der Landkarte zu löschen“. Oft wird das als Beginn des Nahostkonfliktes beschrieben. Weniger als drei Jahre nach dem Holocaust formierten sich damit wieder Truppen, um Juden zu vernichten. Der erste Krieg endete mit einem klaren Sieg für Israel. 1967 kam es erneut zu Krieg zwischen den arabischen Staaten unter ägyptischer Führung und Israel, und in der als Sechstagekrieg bekannten militärischen Auseinandersetzung konnte sich Israel erneut behaupten. Die Folgen dieser Kriege beeinflussen bis heute die geopolitische Lage in der Region.
1979 unterzeichnete Israel mit dem ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat einen Friedensvertrag. Mit diesem Vertrag war Ägypten der erste arabische Staat, der Israel offiziell anerkannte. Sadats Plan sah auch eine Verhandlung über die palästinensische Frage vor, jedoch waren es wieder die Palästinenser, die Verhandlungen abgelehnten und Sadat jegliche Legitimation für den Friedensschluss mit Israel absprachen. Zwei Jahre darauf wurde Sadat von radikalen Islamisten erschossen. Es folgten noch mehrere, kleinere Kriege, bis es erst ab 1993 erneut Hoffnung auf Frieden gab.
ist Diplom-Psychologe, Autor, Gründer und Geschäftsführer der Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention (MIND prevention). Am 22. August erscheint sein neuestes Buch mit dem Titel „Klartext zur Integration – Gegen falsche Toleranz und Panikmache“ im S. Fischer Verlag.
Unter Jassir Arafat und Yitzhak Rabin glückten Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern. Durch die palästinensischen Aufstände, die im Jahr 2000 eskalierten, als es Terroranschläge gab und die Zweite Intifada begann, wurde die Chance auf Frieden erneut zerstört. Die palästinensische Seite lehnte seitdem mehrere Angebote für Friedensschlüsse ab und war kaum bereit, Kompromisse einzugehen. Nach dem kompletten Abzug Israels aus Gaza putschte die Terrororganisation sogar gegen die palästinensische Regierung von Mahmud Abbas und übernahm die Macht in Gaza. Abgesehen von den militärischen Auseinandersetzungen mit der Hamas und den ständigen Angriffen aus Gaza mit Raketen muss Israel heute mit zwei Akteuren über die palästinische Frage verhandeln – der Hamas in Gaza und der Fatah im Westjordanland.
Frieden zu schließen bedeutet, Kompromisse einzugehen. Nicht jedes Enkelkind von Vertriebenen wird nach Haifa in das Haus der Großeltern zurückkehren können. Ebensowenig, übrigens, wie alle Enkel der 1948 aus arabischen Staaten und dem Iran vertriebenen Juden dorthin zurückkehren könnten. Der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert versprach den Palästinensern 2006 und 2007, man werde 98 Prozent ihrer territorialen Forderungen akzeptieren. Trotzdem lehnten die Palästinenser ab. Aktuell arbeiten die USA an einem neuen Friedensplan, und ich denke, Frieden ist es immer wert, Gesprächsbereitschaft zu zeigen. Doch besser wäre es, wenn der Plan von uns selber käme, aus unserer Mitte. Im Augenblick habe ich nicht viel Hoffnung, denn die palästinensische Seite zeigt sich kompromisslos wie eh und je und beharrt auf ihr Geschäft rund um die palästinensische Opferrolle.
Die BDS-Kampagne knüpft genau an diesen vereinfachten Rollenbildern an: Palästinenser – Opfer, Israelis – Täter. So dämonisiert diese Boykott-Kampagne strukturell rassistisch die gesamte israelische, jüdische Bevölkerung, Politiker, Unternehmer, Akademiker, Angestellte Bauern oder Künstler. Absurderweise plädieren sogar viele jüdische Akademiker aus Israel, die in Amerika, oder Europa arbeiten, für den Boykott israelischer Akademiker – sie müssten sich selber boykottieren. Einseitiges Kategorisieren in Gut und Böse, Freund und Feind ist ein klassisches Element diskriminierender Ideologien, die Komplexität und Vielschichtigkeit von Gesellschaften einebnen wollen. Legitime Kritik würde sich direkt an die israelische Regierung richten. Die BDS-Kampagne hingegen betreibt die pauschale Delegitimierung des Staates Israel. Ihr Boykottaufruf zielt auf die Bürger, deren Waren und Produkte nicht mehr gekauft werden sollen. Das ist Antisemitismus in Reinform, und darin erklingt das Echo der Nationalsozialisten: „Kauft nicht bei Juden!“
Teils kaufen bereits internationale Unternehmen keine Waren mehr aus Israel und sogar einige Politiker aus Deutschland unterstützen die BDS-Kampagne. Einige ihrer Aktivisten arbeiten mit radikalen Islamisten aus dem Gazastreifen zusammen und scheuen auch den Kontakt zu palästinischen Terroristen nicht. Prominentes Beispiel dafür ist Leila Chaled, die PFLP-Terroristin, die im September 1970 Flugzeuge entführte. Sie wurde 2017 von einer linksextremen spanischen Partei, der Izquierda Unida, zu einer Veranstaltung ins Europäische Parlament eingeladen. Von Protesten dagegen war aus Brüssel nichts zu hören.
Israel muss sich unverhältnismäßig viel Kritik gefallen lassen, und ich nenne das Doppelmoral. Wenn es um Gleichberechtigung und Menschenrechte geht, weshalb fehlen dann Forderungen nach einem Boykott der radikalislamistischen Hamas? Sie steht immerhin bei der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten auf der Liste der Terrororganisationen – und stellt seit 2006 im Gazastreifen die Regierung. Und woher, das frage ich mich oft, die obsessive Beschäftigung mit Israel? Warum sieht man keine Menschenrechtler auf die Straße ziehen gehen eklatantes Unrecht in Myanmar, in Nordkorea, in Weißrussland, in China?
Es war ein wichtiges Zeichen, dass der Deutsche Bundestag am 17. Mai die BDS-Bewegung als antisemitisch verurteilte. Doch im Kampf gegen Antisemitismus liegt noch viel Arbeit an. Um die Bedrohung und Diskriminierung zu verstehen, mit der Israel konfrontiert ist, müssten Europäer lernen, sich empathisch und politisch in die Rolle Israels zu versetzen. Jeder Austausch, der diesem Ziel dient ist produktiv.
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