Nancy Fraser über Cancel Culture: „Angriff auf die Meinungsfreiheit“
Die US-Philosophin Nancy Fraser über die Gründe für ihre Ausladung durch die Uni Köln, den deutschen Umgang mit Israel und Boykotte gegen das Land.
taz: Frau Fraser, Sie sollten im Mai an der Universität zu Köln eine Gastprofessur antreten. Die wurde jetzt kurzfristig abgesagt. Wie kam es dazu?
Nancy Fraser: Ich stand seit Monaten im Austausch mit der Universität, um meinen Aufenthalt vorzubereiten. Im Juli 2023 wurde ich offiziell eingeladen. Vor etwa zehn Tagen erhielt ich dann eine E-Mail, in der es hieß, dass der Rektor über eine Erklärung, die ich vergangenen November unterschrieben habe, besorgt sei und dass er gerne meine Ansichten über den Staat Israel hören würde.
Die Universität sagt, Ihre Antwort habe „keine neuen Erkenntnisse zum Sachstand und zu Ihrer Position gegenüber Israel erbracht“.
Ich hielt diese Anfrage für unangebracht. Aber ich schrieb, zu diesem Thema gebe es verschiedene Meinungen und viel Schmerz auf allen Seiten, auch für mich als Jüdin. Aber ich hätte gelesen, dass sich der Rektor für einen freien und offenen Dialog einsetzt, und darauf könnten wir uns alle einigen. Ich hatte gehofft, dass die Angelegenheit damit erledigt wäre. Aber schon am nächsten Tag erhielt ich eine Mail vom Rektor selbst, in der er mir mitteilte, dass er angesichts meiner Unterstützung des offenen Briefs „Philosophy for Palestine“ leider keine andere Wahl habe, als seine Einladung zurückzuziehen.
Jahrgang 1947 in Baltimore, ist eine der bedeutendsten Intellektuellen der USA. Sie lehrt Philosophie an der New School for Social Research in New York und ist dort eine Nachfolgerin Hannah Arendts. Die Philosophin forscht seit über 20 Jahren zu Kapitalismus und sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und Feminismus. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“ (Suhrkamp-Verlag, 2023) sowie ein Beitrag im Sammelband „Was stimmt nicht mit der Demokratie?“ (Mit Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa).
Haben Sie mit dem Rektor der Uni Köln, Joybrato Mukherjee, gesprochen?
Nein, aber ich sehe, dass er mit deutschen Medien spricht und Nebelkerzen wirft, um davon abzulenken, dass das ein unverfrorener Angriff auf die akademische Freiheit ist, auf die Autonomie der Wissenschaftler, die mich als Gastprofessorin ausgewählt haben, und ein Angriff auf die Meinungsfreiheit insgesamt. Wie jeder Bürger habe ich das Recht, mich am politischen Diskurs zu beteiligen, ohne um meinen Job fürchten zu müssen. Wenn ich mich nicht irre, ist dieses Recht auch in Deutschland in der Verfassung verankert.
In der „Frankfurter Rundschau“ ist zu lesen, Herr Mukherjee würde gerne öffentlich mit Ihnen über die Gründe für seine Ausladung diskutieren. Was halten Sie davon?
Nun, das habe ich auch gelesen, aber ich habe keine solche Einladung erhalten, das ist eine Lüge. Und warum sollte ich mit ihm überhaupt über die Gründe für meine Kündigung diskutieren? Er hat ein PR-Problem. Aber es ist nicht meine Aufgabe, ihm zu helfen, den Schaden zu reparieren, den er seinem Ruf zugefügt hat.
Der Rektor wirft Ihnen vor, Sie hätten mit Ihrer Unterschrift unter diesen Brief den Angriff der Hamas relativiert, das Existenzrecht Israels infrage gestellt und zum Boykott israelischer Institutionen aufgerufen. Was sagen Sie dazu?
Ich bin keine Kriminelle, die angeklagt ist und sich rechtfertigen muss. Ich habe nur von meinem Recht als freier Bürger Gebrauch gemacht, meine Meinung in Form einer Unterschrift unter einem offenen Brief kundzutun. Ich möchte aber erläutern, was wirklich in dem Brief stand, denn es kursieren zutiefst diffamierende Behauptungen darüber. Der Brief drückt Solidarität mit den Menschen in Palästina aus, und ich würde sagen, dass das heute noch dringender ist als damals, als er veröffentlicht wurde. Er stellt die aktuelle Krise in den Kontext einer breiteren Geschichte von Gewalt und Besatzung, Enteignung und Vertreibung, und er verurteilt ausdrücklich die Ermordung von Zivilisten, sowohl in Israel als auch in Palästina. Um das Leben aller Menschen, die in der Region leben, zu schützen, müssen die Bedingungen, die Gewalt hervorbringen, beendet werden – das steht in dem Brief. Kein Wort darüber, dass Israel kein Existenzrecht hätte.
Das stellen Sie nicht infrage?
Ich und die rund vierhundert Menschen, die diese Erklärung unterschrieben haben, werden durch solche Behauptungen verleumdet. Der Rektor und die Kräfte innerhalb der deutschen Regierung, die ihn unterstützen, sollten mit ihren Falschdarstellungen des Briefs konfrontiert werden und für diese Verzerrungen zur Rechenschaft gezogen werden. Der Kölner Rektor ist übrigens auch der Präsident des DAAD, der den gesamten Austausch der deutschen Wissenschaft mit internationalen Wissenschaftlern und Studenten organisiert. Wenn es für Stipendien und andere Formen des akademischen Austauschs jetzt diese Art von McCarthyhaften Anforderungen geben sollte, wäre das sehr beunruhigend.
Wer für einen Boykott ist, der dürfe sich nicht beschweren, wenn er selbst boykottiert wird, sagen manche.
Nun, ich werde nicht boykottiert. Ich werde im Grunde gefeuert von einem Job, den zu übernehmen ich vertraglich vereinbart habe. Wer fordert, Israel zu boykottieren, will nicht andere Menschen für ihre Meinung bestrafen oder andere Menschen feuern, sondern einen Staat sanktionieren, dem er Menschenrechtsverletzungen und Schlimmeres vorwirft. Das ist etwas völlig anderes und der Vergleich so absurd wie Äpfel und Birnen. Aber es ist bezeichnend, mit welchen Argumenten die Leute versuchen, vom eigentlichen Skandal abzulenken.
Wie stehen Sie zur Boykottbewegung BDS?
Ich habe den Aufruf zu einem wirtschaftlichen Boykott Israels zur Beendigung der Besatzung immer unterstützt, hatte aber Zweifel an einem akademischen Boykott – nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil ich meinen Kolleginnen und Kollegen an israelischen Universitäten, die gegen die Besatzung sind und die sich heute mutig gegen den Krieg im Gazastreifen stellen, nicht schaden wollte. Aber ich habe den Boykott der akademischen Einrichtungen in Südafrika unterstützt, und ich würde auch nicht an eine israelische Universität gehen, um dort einen Vortrag zu halten. Aber das ist meine persönliche Entscheidung.
Judith Butler wird in Deutschland angefeindet, eine Preisverleihung für Masha Gessen wurde abgesagt. Die Direktorin des Einstein-Forums Susan Neiman sagt, sie will Deutschland verlassen. Ist Ihr Fall symptomatisch?
Ehrlich gesagt fühle ich mich geehrt, in einer Reihe mit diesen bemerkenswerten, prinzipientreuen und mutigen Menschen zu stehen. Aber ich weiß auch von palästinensischen Filmemachern, Schriftstellerinnen und anderen, die gecancelt wurden. Prominenten wie uns wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch viele andere Menschen gibt, die davon betroffen sind.
Sehen Sie die Meinungsfreiheit in Deutschland bedroht?
Ich bin zu selten in Deutschland, um mir ein Urteil zu erlauben. Aber in den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern entsteht der Eindruck, dass Deutschland von einer Art McCarthy-Fieber befallen ist. Kritiker der israelischen Staatspolitik werden des Antisemitismus beschuldigt und das Existenzrecht Israels zu leugnen. Die meisten dieser Vorwürfe sind völlig aus der Luft gegriffen und werden benutzt, um eine rechte politische Agenda voranzutreiben. Das ist sehr traurig. Viele Deutsche fühlen verständlicherweise eine besondere Verantwortung gegenüber Juden. Aber man darf diese Verantwortung nicht mit der Unterstützung einer rechten, hypermilitaristischen, expansiven israelischen Regierung gleichsetzen.
Sondern?
Die jüdische Erfahrung ist sehr reich und sehr tief. Warum empfindet man nicht mehr Verantwortung gegenüber der jüdischen Tradition, die von Spinoza, Heinrich Heine, Sigmund Freud bis hin zu Albert Einstein reicht? Das ist der Teil der jüdischen Tradition, mit dem ich mich persönlich als Jüdin identifiziere. Er hat nichts mit israelischem Nationalismus und schon gar nichts mit dieser schrecklichen Regierung zu tun, die Palästinenser als „Tiere“ bezeichnet. Es gibt in Deutschland ein großes Missverständnis darüber, was es bedeutet, der deutschen Verantwortung gegenüber Juden gerecht zu werden.
Sehen Sie Parallelen zu aktuellen Campus-Debatten in den USA?
Die Parallele besteht darin, dass der Vorwurf des Antisemitismus als Waffe eingesetzt wird, und es steht außer Frage, dass die Ergebnisse sich am Ende ähneln: Die freie Meinungsäußerung und die politische Debatte werden abgewürgt. Unsere Universitäten, vor allem unsere berühmten Ivy-League-Universitäten, werden aber weitgehend privat finanziert. Was wir hier erleben, ist ein Aufstand eines Teils der großen Geldgeber, die versuchen, die akademische Freiheit der Fachbereiche, der Studierenden, der Verwaltungen, der Universitätspräsidenten, der Dozenten und anderer Mitarbeiter einzuschränken. Dass Leute, die reich sind und Geld spenden, versuchen, Einfluss darauf zu nehmen, was an den Universitäten gelehrt wird, das hat es früher schon gegeben. Aber jetzt hat es einen neue Stufe der Dreistigkeit erreicht: Sie tun es ganz offen und ohne Scham.
Sehen Sie an US-Universitäten kein Antisemitismus-Problem?
Es steht außer Zweifel, dass es in den Vereinigten Staaten und an vielen anderen Orten Antisemitismus gibt. Zu sagen, dass er als Waffe eingesetzt wird, bedeutet nicht, das anzuzweifeln. Aber ich würde sagen, dass es arabische, muslimische oder palästinensische Studenten und Kritiker der Gaza-Invasion auch nicht einfach haben. Und auf der anderen Seite gibt es in den Vereinigten Staaten eine wichtige Kraft, welche die israelische Politik der Zerstörung in Gaza ohne Vorbehalte unterstützt, und das sind die christlichen Evangelikalen. Sie glauben, dass der Messias erst dann kommen wird, wenn alle Juden im Staat Israel versammelt sind und Israel vom Fluss bis zum Meer reicht. Dann werden die Christen in den Himmel aufsteigen und die Juden, die nach Israel gegangen sind, werden in der Hölle brennen, zusammen mit den Muslimen und allen anderen.
Wie stark prägen solche Stimmen den Diskurs?
Was sich in den Vereinigten Staaten geändert hat, ist, dass es mehr Sendezeit für palästinensische Stimmen und Stimmen der Solidarität mit den Palästinensern gibt. Wir hatten viele Jahre lang eine sehr einseitige öffentliche Sphäre. Das ändert sich jetzt, und ich glaube, dass das die israelische Rechte in Angst und Schrecken versetzt. Denn sie ist es nicht gewohnt, ihre Position in der Öffentlichkeit verteidigen zu müssen. Jetzt muss sie es.
Zurück zu Ihrer Gastprofessur: Welche Folgen hat die Absage für Sie?
Im Moment habe ich keine Zeit, meiner eigentlichen Arbeit nachzugehen, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, E-Mails zu schreiben und Interviews zu geben. Ich erhalte viel Unterstützung und habe verschiedene Angebote, die abgesagte Albertus-Magnus-Vorlesung woanders zu halten.
Vielleicht müssen Sie Ihren Flug also nicht stornieren?
Ich denke schon. Und ich erwarte, dass ich dafür entschädigt werde.
Erwägen Sie rechtliche Schritte gegen die Uni Köln?
Derzeit bevorzuge ich es, eine öffentliche Debatte zu führen. Aber wir werden sehen. Es kann durchaus sein, dass ich mich irgendwann dazu entschließen werde.
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