Menschenrechtsverletzungen durch Israel: „Baerbocks Rhetorik ist entmenschlichend“
Arabische Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Bundesregierung und fordern, sie solle Israel keine Waffen mehr liefern.
![Zwei Kameramänner mit Pressewesten stehen am Wasser. Am anderen Ufer sind Gebäude zu sehen, aus denen schwarzer Rauch aufsteigt. Zwei Kameramänner mit Pressewesten stehen am Wasser. Am anderen Ufer sind Gebäude zu sehen, aus denen schwarzer Rauch aufsteigt.](https://taz.de/picture/7354932/14/37010844-1.jpeg)
taz: Frau Boulakovski, Sie fordern gemeinsam mit 16 weiteren arabischen Menschenrechtsorganisationen ein deutsches Waffenembargo gegen Israel. Warum?
Tanya Boulakovski: Wir, insgesamt 17 lokale und internationale Organisationen, möchten ein Massensterben unter der Zivilbevölkerung verhindern. Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Waffenexporteur an Israel – ein Land, das derzeit vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermordes angeklagt ist und das auch im Südlibanon Zivilist*innen, medizinische Teams und Krankenwagen bombardiert und Dörfer dezimiert.
Welche Menschenrechtsverletzungen kritisieren Sie im Libanon?
Seit dem 17. September hat Israel seine Angriffe auf den Libanon verstärkt und zivile Infrastrukturen, Zivilist*innen, medizinische Teams, Krankenwagen, Journalist*innen und humanitäre Helfer*innen angegriffen. Das verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht, insbesondere gegen die Genfer Konventionen und ihre Protokolle. Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums wurden bei wahllosen Angriffen auf Zivilist*innen seit dem 8. Oktober 3.287 Menschen getötet.
Sie vertritt Fälle von Menschenrechtsverletzungen vor internationalen Menschenrechtsgremien und ist Menschenrechtsbeauftragte bei MENA Rights Group. Gemeinsam mit 16 arabischen Organisationen haben sie sich in einem offenen Brief an den deutschen Botschafter in Beirut, Kurt Georg Stoeckl-Stillfried, gewandt.
Was fordern Sie von der deutschen Außenpolitik?
Wir sagen, Deutschland sollte auf entmenschlichende Äußerungen verzichten. Wir fürchten, das könnte Israel einen Anreiz und Rechtfertigung bieten, Zivilist*innen anzugreifen. Bei einer Rede im Parlament hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock behauptet, „wenn Hamas-Terroristen sich hinter Menschen, hinter Schulen verschanzen“ würden, könnten „auch zivile Orte ihren Schutzstatus verlieren; weil Terroristen diesen missbrauchen.“
Hat Baerbock nicht recht?
Diese Rhetorik ist gefährlich und könnte den Weg dafür ebnen, weitere Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu rechtfertigen, im Libanon oder in Gaza. Angriffe auf zivile Infrastruktur dürfen niemals gerechtfertigt oder normalisiert werden. Daher rufen wir alle gemeinsam Deutschland dazu auf, sich vielmehr für die Einhaltung der internationalen Gesetze zum Schutz der Zivilbevölkerung einsetzen.
Welche Gesetze meinen Sie?
Zivilist*innen und zivile Infrastrukturen dürfen nicht angegriffen werden. Sie sind gemäß dem ersten Protokoll zur Genfer Konvention eindeutig geschützt. Das humanitäre Völkerrecht sieht eindeutig vor, dass Konfliktparteien jederzeit zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen unterscheiden müssen. Sie dürfen nur gegen militärische Ziele vorgehen. Wahllose Angriffe, die in erster Linie dem Zweck dienen, Terror unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, sind verboten.
Wie wird der Begriff „Terror“ rechtlich definiert?
Es gibt keine international vereinbarte Definition von Terrorismus. Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung müssen im Einklang mit dem Völkerrecht angewandt werden. Aber viele staatliche Behörden verabschieden oft zu vage und weit gefasste Gesetze zur Terrorismusbekämpfung, die nicht den internationalen Standards entsprechen. Sie nutzen sie dann als Instrument, um nach eigenem Ermessen gegen Andersdenkende vorzugehen und selbst gewaltlose Handlungen als terroristische Handlungen zu bezeichnen.
Israels Regierung sagt, sie bekämpfe nur Terroristen.
Schon 2021 und 2022 haben UN-Menschenrechtsexpert*innen gewarnt, dass die israelischen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung gegen das Völkerrecht verstoßen und dazu genutzt werden können, legitime politische oder humanitäre Handlungen zu kriminalisieren und zu unterdrücken. Das untergrabe „die Sicherheit aller“. Das Ausmaß und die Schwere der Folgen, die dieser Missbrauch der Terrorismusbekämpfung haben, werden angesichts des andauernden israelischen Völkermords in Gaza deutlicher denn je.
Was meinen Sie damit?
Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung missachtet Israel das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte. Ungeachtet der Bedenken, die von den Vereinten Nationen vorgebracht wurden, hat Israel seine Antiterrorgesetze weiter verschärft. Erst vor zwei Wochen hat die Knesset zwei Gesetze verabschiedet, die darauf abzielen, auf der Grundlage von Terrorismusvorwürfen, das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) aufzulösen.
Wir müssen die Art und Weise, in der der weltweit der Kampf gegen den Terrorismus geführt wird, überdenken und verändern. Die internationale Gemeinschaft muss sich dazu verpflichten, den Menschenrechten eindeutig und bedingungslos Vorrang vor jeder anderen Agenda einzuräumen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Trump und die Ukraine
Europa hat die Ukraine verraten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss