Künast und Beckstein im Streitgespräch: „Antikapitalismus der 70er Jahre“
Die Berliner Grüne Künast und der Nürnberger Schwarze Beckstein über Verbote, Schweinshaxen – und ein Bündnis von Union und Grünen.
taz: Frau Künast, Herr Beckstein, wir treffen uns hier im Bundestag. Wie sind Sie hierhergekommen? Fahrrad, Auto, Flugzeug?
Günther Beckstein: Ich wohne in Nürnberg. Ich bin von zu Hause mit dem Bus zur U-Bahn gefahren, mit der U-Bahn zum Bahnhof, mit dem ICE nach Berlin und vom Bahnhof hierher gelaufen. Ich bin also vorbildlich hergekommen.
Sie meinen: 1:0 für die ergrünte CSU?
Renate Künast: Das fängt ja schon mal gut an. Ich zweifle, ob das typisch für die CSU ist.
Haben Sie ein Auto?
Künast: Nein, in Berlin braucht man eigentlich kein Auto. Ich bin begeisterte Zugfahrerin.
Beckstein: Meine Frau und ich haben ein Auto.
geboren 1955, ist Juristin, Mitglied der Grünen und seit 2002 Abgeordnete des Deutschen Bundestags. Sie war von 2001 bis 2005 Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und von 2005 bis 2013 Chefin der grünen Bundestagsfraktion. Bis 2018 war sie Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestags. Ihr Versuch, 2011 mit den Grünen in Berlin das Rathaus zu erobern, scheiterte, der Sozialdemokrat Klaus Wowereit gewann. 2017 besuchte Künast Menschen, die sie im Internet beschimpft hatten, und schrieb das Buch „Hass ist keine Meinung. Was die Wut in unserem Land anrichtet“.
Also zwei?
Beckstein: Ja. Und ich brauche es. Ich bin noch immer allerhand beruflich unterwegs. Mit einem eigenen Pkw, der übrigens ein Diesel ist …
Künast: … jetzt steht es eins zu eins …
Beckstein: … und nur 4,7 Liter verbraucht. Umweltschonend zu leben ist auch für einen CSU-Mann meiner Generation ein Ziel. Die Schöpfung zu bewahren ist eigentlich ein erzkonservatives Anliegen. Die Grünen tun das eher ideologisch.
Künast: Wenn Sie mir Ideologie unterstellen, werden wir nicht miteinander klarkommen.
Beckstein: Ich habe es vorsichtig formuliert: eher ideologisch. Ich erinnere an den Veggie-Day.
Frau Künast hatte 2013 einen Veggie-Day in Kantinen vorgeschlagen. Die Grünen haben diese Position damals zurückgenommen. Ist die Verbotsdebatte noch aktuell?
Künast: Wenn die CDU/CSU weiterhin glaubt, sie könnte die Grünen als Verbotspartei angreifen, täuscht sie sich. Ich reagiere auf den Vorwurf, wir seien eine Verbotspartei, eigentlich nicht mehr. Oder ich drehe den Spieß um. Wenn beim Essen manipuliert wird, dann tun das nicht die Grünen. Die CDU/CSU hingegen hat es jahrelang zugelassen, dass schon Kleinstkinder mit gezielter, entwicklungspsychologisch überlegter Werbung adressiert werden, damit sie überzuckerte hochverarbeitete Lebensmittel essen wollen.
Zum Beispiel Überraschungseier mit Figuren und Rollenspiel drin. Oder sogenannte Frühstückscerealien. Die Wirtschaft arbeitet mit Psychologen und Akustikdesignern, um Kinder zielgerichtet an diesen Konsum zu gewöhnen. Wir haben heute ungefähr 15 Prozent Kinder mit Fettleibigkeit, alles potenzielle Diabetiker. Sie essen zu viel billigen Zucker, trinken zu viele Softdrinks.
Das macht Kinder übergewichtig, weil Zucker fett macht, und bringt den Insulinspiegel durcheinander. Diese Zehn-, Elf-, Zwölfjährigen mit chronischen Erkrankungen werden ihr Leben lang Chronikerbehandlung brauchen. Die andere Seite dieser Industrie, die Kinder krank macht, ist der Raubbau, die Rodung von Wäldern, um Zuckerrohr als Monokultur anzubauen.
Beckstein: Zucker wird in Niederbayern aus Rüben hergestellt. Ich bin sehr wohl dafür, über Gefahren aufzuklären. Aber man kann niemanden zwingen, sich in einer bestimmten Weise zu ernähren. Man muss die Einzelnen in die Pflicht nehmen, wenn sie zu viel fressen und saufen. Ich habe selbst Probleme mit dem Gewicht. Ich wiege mich laufend und stelle fest: Ich esse nichts und nehme zu. Es ist ungerecht.
Künast: Sie veralbern das Thema. Nehmen wir Adipositas. Das betrifft vor allem finanziell Schwächere und Bildungsferne. Mehr als die Hälfte der Männer hat massives Übergewicht und daraus folgende Erkrankungen. Und die sind überproportional in gesetzlichen Krankenkassen. Die einen machen mit billigen Rohstoffen wie Zucker Riesenprofite, die Folgen zahlt die gesetzliche Krankenkasse. Das ist nicht in Ordnung.
Beckstein: Es ist die Eigenverantwortung der Menschen, darauf zu achten, nicht so viel zu essen und trinken, dass es ihrer Gesundheit abträglich ist. Das Problem ist in Bayern wahrscheinlich noch größer als in Berlin. Die Ernährungsgewohnheiten im Bierzelt sind nicht gesund.
Künast: Man wird nicht von einer Schweinshaxe dick. Man wird vom Zucker dick. Von all den Produkten, die als Mittel zum Leben dargestellt werden, aber Süßigkeiten sind – also keine Grundnahrungsmittel.
geboren 1943, ist CSU-Mitglied. Von 1993 bis 2007 war Beckstein bayerischer Innenminister und von 2007 bis 2008 Ministerpräsident des Freistaats Bayern. Der engagierte Protestant wohnt in Nürnberg. 2009 und 2013 versucht er vergeblich, zum Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland gewählt zu werden. Beckstein engagiert sich für mehr Bürgerbeteiligung und ist seit dem vorigen Jahr Mitglied des Nationalen Begleitgremiums für die Suche nach einem Standort für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle.
Beckstein: Jeden Tag Schweinshaxe ist auch ungesund.
Künast: Herr Beckstein, Sie wollen an das Thema einfach nicht ran. Es geht mir nicht um Zwang. Aber wir können nicht zulassen, dass Kinder beim Fernsehgucken oder im Internet mit Werbung beballert werden, damit sie diese für Kinder produzierten Zuckerbomben essen sollen.
Beckstein: Ich höre bei Ihnen, Frau Künast, dass es immer noch mehr Regeln geben soll, Verbote ohne Ende, die nicht einmal kontrolliert werden können. Soll denn im Haushalt überprüft werden, wie ich mein Essen koche?
Künast: Natürlich nicht! Es geht um unsere gesamte Ernährungsumgebung. Wenn die vollwertig und pflanzlicher wird, bleibt genug Raum für Süßigkeiten und Wein.
Beckstein: Ich setze nicht auf Verbote, sondern auf Aufklärung über gesunde Ernährung. Ich weiß, dass es schwierig ist, Kindern und jungen Leuten gesunde Ernährung beizubringen.
Künast: Warum ist das so schwierig? Weil eine Industrie viel Geld damit verdient und geschickte Werbung sie manipuliert.
Beckstein: Haben Sie Enkel?
Künast: Nein.
Beckstein: Entschuldigung, Sie haben keine Ahnung, wie das ist. Meine Enkel essen ganz von sich aus gerne Gummibären.
Künast: Jetzt müssen wir streiten. Ich habe Patenkinder. Ich mache auch mit Kindern zusammen Eis, koche Königsberger Klopse, weil sie das mögen. Dass Sie Enkel haben, ist kein Grund, mir zu sagen, dass ich keine Ahnung hätte.
Beckstein: Auf gesunde Ernährung zu achten liegt in einer freien Gesellschaft in der Selbstverantwortung der Menschen. Ich glaube, Sie überschätzen die Wirkung von Werbung und unterschätzen die Verantwortung der Eltern.
„Schwarz vs. Grün: Ein Streitgespräch über Klima, Wachstum und eine gute Zukunft“, moderiert von Stefan Reinecke. 224 Seiten, oekom verlag. Dies ist eine redaktionell bearbeitete Fassung des Gesprächbuchs. Es erscheint am 14. April.
Künast: Herr Beckstein, das ist aus der Zeit gefallen. Die Industrie macht Milliarden Umsatz, gibt Unsummen für Werbung speziell adressiert an Kinder aus. Das sehen nicht nur wir Grüne so. 150 Kinderärzte haben gesagt, wir müssen dringend was tun. In unser beider Jugend gab es hin und wieder ein Stück Schokolade. Die Kinder heute wachsen mit Süßigkeiten und Fastfood auf. Die Leute sollen essen, was sie wollen. Aber wir brauchen eine andere Ernährungsumgebung. Das sagt die WHO, das sagt selbst ein Gutachten aus dem Ministerium Klöckner.
Beckstein: Zucker ist ein problematischer Rohstoff, der bei uns viel zu viel verwendet wird. Es ist richtig, dass in der Ernährungsberatung die zuckerreduzierte Ernährung im Bereich Kindergarten, Schule, gerade bei Ganztags- und Krippeneinrichtungen, betont wird. Das ist Standard und nichts Neues. Zucker ist in Marmelade, Cola, der Pizza, im Kuchen, in Pudding, Nürnberger Lebkuchen, praktisch in fast allen Genussmitteln. Soll man für Schokolade und Pizza nicht mehr werben dürfen?
Künast: Mein Punkt ist: Keine spezifisch an Kinder adressierte Werbung. Werbung für Nürnberger Lebkuchen und Marmelade ja, aber keine Werbung mehr, die Jüngere gezielt anspricht.
Beckstein: Eltern sollten den Medien- und Fernsehkonsum der Kinder extrem reduzieren. Meine Enkel wissen nicht, was Werbung ist. Und zum Frühstück gibt es Gurken und Obst.
Künast: Da sind Ihre Enkel nicht typisch. Wir reden doch nicht über individuelle Fälle, wir reden über eine Struktur. Da hören Sie weg. Natürlich ist die Erziehung durch Eltern wichtig. Zu sagen: Sollen die Eltern und die Schule doch alleine sehen, wie sie das Problem angesichts dieses Umfeldes in den Griff bekommen, ist zu wenig. Wenn berufstätige Eltern k. o. nach Hause kommen und dann mit den Folgen der Strategien internationaler Konzerne …
Beckstein: … das ist der Antikapitalismus der 70er Jahre …
Künast: Herr Beckstein, soll ich Ihnen auf diesem Niveau antworten?
Beckstein: Das ist ein Schmarrn, ohne ernsthafte Substanz für die Politik.
Künast: Sie sind offenbar zu feige, Regeln durchzusetzen. Die Wirtschaftskompetenz der Union besteht darin, möglichst keine Regeln zu machen und die Wirtschaft ihren Profit machen zu lassen. Der Rest ist egal.
Beckstein: Im internationalen Vergleich haben die EU und besonders Deutschland viele Regelungen. Wir regulieren mehr als in den USA oder China. Politik hat eine ordnungspolitische Funktion. Aber wir können nicht alles verbieten, was nicht absolut gesund ist. Der Wein ist nicht gesund, wenn man zu viel trinkt. Das Bier ist nicht gesund, Cola nicht und Trinkschokolade auch nicht, weil Zucker drin ist. Für all das soll keine Werbung mehr gemacht werden dürfen …
Künast: Sie sind festgefräst in Ihrer Verbotsidee. Befreien Sie sich mal davon.
Beckstein: Sie haben doch von Werbeverbot geredet.
Künast: Bei Alkohol und Zigaretten ist Werbung in Richtung Kinder oder Jugendliche verboten. Warum nicht bei Zucker? Viele Staaten haben genau das gemacht.
Herr Beckstein, wird die Union die Grünen im Wahlkampf als Verbotspartei angreifen?
Beckstein: Ich sehe bei Frau Künast eine nahezu unbeschränkte Bereitschaft für Verbote. Das beginnt bei der Frage, was man isst, und endet dort nicht. In so breitem Umfang mit Verboten zu arbeiten, richtet in einer freiheitlichen Gesellschaft massiv Schaden an. Verzichtsbereitschaft und Einschränkungen bei unserem Lebensstandard werden nicht funktionieren. Nach meiner Überzeugung sind die Grünen eine Partei der Verbote. Wie stark wir sie angreifen, das wird auch von ihrem Wahlkampf abhängen.
Künast: Herr Beckstein, ich glaube, dass die Union zwei tote Pferde reitet. Das eine tote Pferd ist das Schlagwort Verbotskultur. Die Menschen sehen längst, dass es bei uns Dinge gibt, die so einfach nicht mehr gehen – weil die Umwelt zerstört wird, weil falsch verstandene Freiheiten von Konzernen die individuellen Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger einschränken. Da schreckt sie Ihr Kampfbegriff aus den Achtzigern wirklich nicht mehr. Das andere eine tote Pferd ist das Argument, wir müssten an Arbeitsplätzen alter Prägung festhalten. Dabei beschäftigen die erneuerbaren Energien mehr Menschen als die Kohle.
Achten Sie auf Ihren ökologischen Fußabdruck? Wissen Sie, wie viel CO2 Sie emittieren?
Beckstein: Ich achte nicht immer darauf. Wenn es keine großen Umstände macht, wähle ich die umweltfreundlichere Variante. Das Rindersteak ist sehr viel umweltschädlicher als die Nürnberger Bratwurst, mein Lieblingsfleisch. Da passt es sowieso. Aber ein ethisches Schuldgefühl, weil mein ökologischer Fußabdruck höher ist als bei anderen Menschen, habe ich nicht. Wenn man beruflich viel reist, emittiert man zwangsläufig viel mehr CO2.
Künast: Ich achte darauf. Aber als Europäerin verursache ich im Alltag einen viel, viel höheren CO2-Ausstoß als jemand, der in Indonesien, Indien oder Tansania lebt. Ich habe für dieses ethische Problem keine Lösung, aber so zu tun, als gäbe es diese moralische Frage nicht, führt auch nicht weiter. Es ist für mich Ansporn, zu überlegen, was ich anders machen kann.
Wie gefährlich ist der Klimawandel? Drohen apokalyptische Szenarien?
Künast: Ja, dann sind wir dem Untergang geweiht.
Beckstein: Nein, die Erde ist stärker.
Künast: Aber ohne uns.
Beckstein: Nein, auch wenn es ein paar Grad wärmer wird, ist das nicht das Ende. Ich vertraue darauf, dass die Kraft der Schöpfung stärker ist. Wir sollten uns nicht einbilden, dass wir die Energie hätten, alles zu ruinieren. Wir müssen jetzt schauen, wie wir CO2-freieTechniken, die marktfähig sind, auf den Weltmarkt bringen.
Künast: Körpersprachlich ausgedrückt, bedeutet ihre Position: Sie lehnen sich zurück und sagen: „Wir müssen uns kümmern und eines Tages eine technische Lösung finden.“ Nein, das reicht nicht! Wir müssen uns heute richtig anstrengen und bei Verkehr, Energie und Landwirtschaft schnell Maßnahmen ergreifen, die etwas nutzen, um Treibhausgase zu reduzieren und dabei Perspektiven aufzeigen. Junge Leute verstehen diese Umweltgefahren, es geht ja auch um ihre Zukunft.
Beckstein: Ich nehme wahr, dass junge Leute sagen: Die Welt geht innerhalb der nächsten 30 Jahre zugrunde, wenn wir nicht sofort radikal einsparen. Ich halte diese Untergangsideen für falsch. Wir werden nur dann etwas auf den Weg bringen, wenn die entwickelten Staaten, die USA, Deutschland, vielleicht auch China, Techniken zur Verfügung stellen, um die CO2-Emission zu bremsen. Die Menschen werden nicht auf Wohlstand verzichten, damit die Temperatur nicht so sehr ansteigt. Auch die Grünen nicht.
Künast: Natürlich geht die Welt nicht in 30 Jahren unter. Das behauptet Fridays for Future auch nicht. Aber das Leben wird mit viel mehr Wetter- und Temperaturextremen in vielen Bereichen ganz anders sein als heute. Mit Greta Thunberg gesagt: „The house is on fire.“ Es gibt heute schon global Fluchtbewegungen, die mit dem Klimawandel zu tun haben. Wir haben global Dürren, Waldbrände, Wasserknappheit. All das wird zunehmen. Das ist doch allen klar, von der UN bis zur EU-Kommission. Und wahrscheinlich eigentlich sogar der CSU.
Beckstein: Selbst wenn Deutschland null Emissionen hätte, rettet das das Klima der Welt nicht. Dafür müssen wir die großen Emittenten wie die USA, China, Brasilien, Indien im Boot haben. Das wird aber nur gelingen, wenn wir zeigen können, dass die Umstellung auf CO2-freie Energieerzeugung auch wirtschaftlich tragfähig ist.
Das ist noch nicht der Fall. Es wird zu teuer werden. Wind und Sonne sind leider sehr unregelmäßig. Es ist bis heute nicht gelungen, kostenmäßig halbwegs vernünftige Speichermedien zu finden. Weder die Batterie noch die Versuche mit Pumpspeicherwerken, Windmühlen oder Wasserstoff waren bisher erfolgreich. Wir haben es noch nicht geschafft zu zeigen, dass die CO2-freie Energieerzeugung der überlegene Weg ist. Der Weg, den wir gehen müssen, ist der, als Hightechland zu zeigen, dass die Reduzierung des CO2-Ausstoßes ohne ernsthafte Wohlstandsverluste möglich ist.
Künast: Ja, ein wichtiger Teil unserer Klimapolitik ist, dass wir vormachen, wie der Umbau der Wirtschaft gelingt. Deutschland muss als viertgrößte Industrienation Vorbild sein. Wir haben mit dem Pariser Klimaabkommen einen Kompromiss geschlossen – eine maximale Steigerung um 1,5 Grad ist der Pfad, auf den wir kommen müssen. Viele sagen, man müsste mehr tun. Wir werden das in Paris fixierte Ziel nur erreichen, wenn wir das Wachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppeln und eine Kreislaufwirtschaft entwickeln. Das muss man radikal umsetzen.
Wir haben keine Zeit mehr. Wenn wir bis 2030 die ersten großen Reduktionsziele erreichen wollen, müssen wir aufhören, mit öffentlichen Geldern das Alte zu konservieren. Jedes Gesetz muss daran gemessen werden, ob es mit den Zielen von Paris vereinbar ist. Vor jede Maßnahme gehört der Prüfungsmaßstab: Hilft sie das Klimaziel von 1,5 Grad zu erreichen? Wie soll ich das sonst meinen Kindern und Kindeskindern erklären?
Beckstein: Ich wehre mich dagegen, das Abkommen von Paris zu einer Art Religion zu stilisieren. Wenn Religion im Spiel ist, wird’s immer wieder auch fanatisch – und Fanatismus hat noch keinem Ziel gutgetan, so legitim das Ziel an sich auch sein mag.
Künast: Das ist keine Religion, sondern ein völkerrechtlicher Vertrag! Deutschland hat ihn unterschrieben und der Bundestag hat zugestimmt. Mit den Stimmen von CDU und CSU! Das sind die Parteien mit dem Wort „christlich“ im Namen, und das bedeutet ja wohl auch, Verantwortung zu übernehmen.
Beckstein: Das Abkommen von Paris legt ein Ziel fest, und zwar ein nicht strafbewehrtes Ziel. Das Abkommen wird nur dann funktionieren, wenn nicht nur Deutschland sich daran hält.
Künast: Aber wir müssen gemeinsam losgehen. Schon im Interesse der Enkelgeneration. Im internationalen Klimaindex steht Deutschland auf Platz 19 von 61 Staaten. Bei den Erneuerbaren liegt Indien vor uns.
Frau Künast, Sie konnten sich 2013 Schwarz-Grün im Bund nicht vorstellen. Jetzt ist das anders. Warum?
Künast: Wir haben uns weiterentwickelt. Wir Grüne haben früher die blinden Stellen der anderen kritisiert. Heute machen wir Angebote für die ganze Palette der Politikbereiche. Deshalb machen wir der Union viel ernster Konkurrenz als vor 20 Jahren. Wir haben jetzt eine Gesamtverantwortung. Wenn CDU/CSU und Grüne in Verhandlungen zu einem gemeinsamen Ergebnis kämen, müsste dieser Kompromiss eine breitere Gesellschaft einschließen. Wir werden die notwendigen Transformation nur mit Bündnissen hinkriegen. Das schließt die IG Metall ein. Es nutzt nichts, Konfrontationen zu suchen. Und deshalb kann man heute darüber reden, ob wir mit denen koalieren, mit denen wir es uns in unseren Gründungszeiten am wenigsten vorstellen konnten. Genauso wenig wie die Union.
Beckstein: Vor 20 oder 30 Jahren wäre es mir extrem schwergefallen, überhaupt darüber nachzudenken, mit den Grünen zu koalieren. Damals waren die Grünen gegen parlamentarische Gremien, sie wollten das System völlig verändern. Aber es ist eben eine große Stärke der Demokratie, dass sie viele in dieses System integrieren kann. Das ist bei den Grünen offensichtlich erfolgt.
Künast: Ich war nie desintegriert – und die Grünen waren es auch nicht. Sonst wäre das Land nicht wie es heute ist. Sie verwechseln Kritik und Protest mit der Ablehnung eines Systems. Wir hatten nur eine andere Vorstellung. Ich kann dagegenhalten: Wir als Grüne haben die CDU/CSU in der Demokratie gezwungen, sich zu verändern.
Beckstein: Die Grünen haben sich natürlich verändert und halten sich an Regeln, die sie früher ignoriert haben. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als die Grünen in die Parlamente einzogen, sich aber nicht an die Regeln hielten und die sitzungsleitenden Präsidenten vor lauter Ordnungsrufen zum Schwitzen brachten. Sie wollten keine normale Partei sein – Rotation in Ämtern und Mandaten waren eherne Grundsätze.
Die Grünen sind zu einer normalen, aber, das muss ich zugeben, immer noch interessanten Partei geworden, die sich ins demokratische Spektrum mit sehr viel mehr Vorschlägen einbringt als zum Beispiel die SPD. Das ist ein Grund, warum die Grünen im Moment so stark sind. Die strikt atheistisch-fundamentalistischen Grünen, die es bei euch früher gegeben hat, mit denen könnte die Union keine Koalition bilden. Aber mit den Realos …
Künast: … wenn, dann kommen wir mit der ganzen Partei. Sie würden ja auch die ganze CSU mitbringen, auch nicht schön für uns.
Beckstein: … bin ich mir sicher, dass eine Koalition machbar ist. Eine Koalition wird viel Arbeit, ist aber im Prinzip möglich.
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