Israels Kampf im Gazastreifen: Völkermord, im Ernst
In der „Süddeutschen Zeitung“ empört sich die Soziologin Eva Illouz über den Genozidvorwurf gegen Israel. Ihre Argumente sind nicht überzeugend.
Z erstörte Landstriche, Bombenangriffe auf Flüchtlingszelte, Zehntausende tote Zivilisten. Der Krieg, den Israel in Gaza geführt hat und der trotz Waffenstillstandsabkommen wieder ausbrechen kann, hat in dem Küstenstreifen eine lebensfeindliche Trümmerlandschaft hinterlassen. Genozidforscher und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International werfen Israel deshalb vor, einen Völkermord zu begehen.
Der Vorwurf wird kontrovers diskutiert, was ja ganz richtig ist, solange sich die Debatte auf einem gewissen Niveau bewegt. Die Süddeutsche Zeitung jedoch veröffentlichte kürzlich einen Text, der vor Halbwahrheiten und merkwürdigen Argumenten strotzt.
„Völkermord? Im Ernst?“, ist der Text der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz übertitelt. Zu Beginn kritisiert Illouz Südafrika dafür, dass es Israel vor dem Internationalen Gerichtshof mit einer Klage des Völkermordes beschuldigt. „Warum … hat Südafrika nie Beschwerde eingelegt gegen den Völkermord an den Kongolesen, den Sudanesen in Darfur, den Rohingya oder den Syrern?“, fragt Illouz. Diesen Einwand entkräftet sie im Anschluss selbst als „Whataboutismus“. Doch es gebe ja weitere, „noch verstörendere Fakten“. „Verstörend“ nennt Illouz hier den Vorwurf des Völkermordes, nicht die israelische Kriegsführung.
Wenn Illouz von den Rohingya spricht, meint sie die muslimische Minderheit im Norden Myanmars, die ab Herbst 2016 von der Armee Myanmars massakriert wurde. Hunderttausende Rohingya flüchteten in das angrenzende Bangladesch. Das Schicksal der Rohingya spielt Illouz nun gegen jenes der Palästinenser aus. „In diesen (und anderen) Fällen war die Zahl der Todesopfer erheblich größer als in Gaza“, schreibt sie.
Das ist ein merkwürdiger Einwand – aus drei Gründen. Erstens kann Südafrika im Falle der Rohingya keine Genozidklage einreichen, weil ein Verfahren auf Antrag Gambias seit 2019 bereits läuft. Zweitens sprechen die Vereinten Nationen und die Asean Parlamentarians for Human Rights von 25.000 bis 43.000 getöteten Rohingya.
Die höhere Ziffer entspricht etwa der Zahl der bestätigten getöteten Palästinenser. Obwohl sich darunter auch Kämpfer befinden, dürfte die Zahl der zivilen Opfer und der Toten aufgrund von Hunger und Seuchen viel höher liegen, wie Wissenschaftler im Medizinjournal Lancet dargelegt haben.
Drittens ist das Aufrechnen von Opferzahlen taktlos – und geht am Thema vorbei. Wie viele Zivilisten getötet wurden, ist für die Frage, ob es sich um einen Völkermord handelt, nicht entscheidend. Laut Genozid-Konvention geht es um die Absicht der beschuldigten Partei, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.
Genozidales aus dem Alten Testament
Das führt uns zu den Absichtsbekundungen israelischer Politiker. Illouz spricht hier von fürchterlichen Rachedrohungen einer „Regierung im Schock“ nach den Hamas-Angriffen am 7. Oktober. Bald aber hätten die Politiker ihre Aufrufe eingestellt. Nur waren es nicht nur irgendwelche Politiker, die sich menschenverachtend äußerten, sondern auch die höchsten Regierungsbeamten. Staatspräsident Herzog machte „eine ganze Nation“ verantwortlich für das Hamas-Massaker, Premierminister Netanjahu zitierte genozidale Passagen aus dem Alten Testament, und Verteidigungsminister Galant sprach von „menschlichen Tieren“, als er ankündigte, dem Gazastreifen Strom und Lebensmittel vorzuenthalten.
Für Illouz sind diese Aussagen Ausrutscher im Eifer des Gefechts, während sie in Wahrheit recht kongruent mit der israelischen Kriegsführung sind. Auch verkennt sie, wie offenbarend diese Vernichtungsdrohungen sind. So wies der israelische Genozidforscher Omer Bartov darauf hin, dass es in Völkermordprozessen normalerweise sehr schwierig ist, den Verantwortlichen die Absicht nachzuweisen. In Israel aber posaunten die Politiker ihre Intentionen für alle Welt heraus.
Illouz nennt Netanjahu daraufhin einen „grauenvollen Staatschef“, womit sie nur zur Hälfte recht hat, denn er ist Israels Regierungschef. Trotzdem gesteht sie dem Premier zu, einen Krieg zu führen, „um Israels Bevölkerung zu schützen“. Ob dieser Krieg für mehr Sicherheit in Israel sorgen wird, bleibt zu bezweifeln.
Die Soziologin macht es „stutzig“, dass sich Netanjahu für seine Taten vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten soll, obwohl er demokratisch gewählt ist. Die Regierungsform sollte bei der Bewertung von Netanjahus Taten aber keine Rolle spielen.
Die Liste von seltsamen Argumenten und selektiven Belegen ließe sich noch weiterführen. So rechtfertigt Illouz die israelischen Angriffe auf zivile Einrichtungen, weil diese zum Kriegsgeschehen beitrügen. Was sie dagegen auslässt, sind die zahlreichen Fälle, in denen das israelische Militär gezielt Universitäten, Moscheen, Schulen und Wohnhäuser sprengt, ohne dass dort gekämpft wird.
Schließlich, schreibt sie, „können wir unserer moralischen Empörung“ über die Wiederbesiedlungspläne extremistischer israelischer Siedler keinen Ausdruck mehr verleihen, wenn der Begriff „Genozid“, „die schlimmste aller Schändlichkeiten, bereits verbraucht wurde“. Doch, natürlich können wir das. Gerade wenn wir im Gegensatz zu Illouz erkennen, dass die zerstörerische Kriegsführung und die Vertreibungen die Bedingungen für die Besiedlungsfantasien der Siedler sind.
Wichtig ist, dass der Genozidvorwurf sich nicht auf die von Illouz angesprochene moralische Empörung beschränkt. Als Kategorie des Internationalen Rechts entfaltet er Wirkung, weil sich alle Unterzeichnerstaaten der Genozid-Konvention verpflichtet haben, einen möglichen Völkermord zu verhindern oder einen abgeschlossenen zu bestrafen. „Wir haben Waffen geliefert und wir werden Waffen liefern“, sagte dagegen Bundeskanzler Scholz im Oktober im Bundestag. Sollte der IGH Israels Krieg als Genzoid einstufen, bleibt zu hoffen, dass auch Komplizenschaft gesühnt wird.
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