Historiker Herf über Antisemitismus: „Genau das Gegenteil war der Fall“
Der US-amerikanische Historiker Jeffrey Herf forscht zu Antisemitismus. Er spricht darüber, wie historische Ignoranz zur Ablehnung Israels beiträgt.
wochentaz: Herr Herf, in Ihrem neuesten Buch geht es um die „Drei Gesichter des Antisemitismus“ – um Islamisten, Rechte und Linke. Die stehen oft im Gegensatz zueinander. Wie kommen Sie auf diese unheilige Allianz?
Jeffrey Herf: Nach dem 7. Oktober gab es in Europa und den USA Menschen, die die Massaker der Hamas in einen historischen Kontext stellten: den der israelischen Unterdrückung der Palästinenser. Mit dem Wesen der Hamas wollten sie sich nicht befassen. Dies hat zu einer sehr merkwürdigen Situation geführt: Menschen, die sich selbst als links oder liberal betrachten, nehmen eine Organisation billigend in Kauf, die ihre Wurzeln in einer Mischung aus religiösem Fundamentalismus und dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis hat. Die Hamas ist eine Bewegung der extremen Rechten: Ihre Auslegung der islamischen Religion ist islamistisch, ihre entsetzlichen Ansichten über Frauen, Queers, Juden und natürlich über die Demokratie sind rechts. Warum also machen sich junge Linke unkritisch für sie stark? Nun, sie definieren Israel als einen rassistischen Staat. Wer gegen Israel kämpft, muss also auf der richtigen Seite stehen.
ist Antisemitismusforscher und lehrte als Historiker an der University Maryland. In Studien wie „The Jewish Enemy: Nazi Propaganda During World War II and the Holocaust“ beschäftigte er sich mit der ideologischen Bedeutung des Antisemitismus für die Nationalsozialisten. Bücher wie „Nazi Propaganda for the Arab World“ oder „Unerklärte Kriege gegen Israel. Die DDR und die westdeutsche radikale Linke, 1967–1989“ beschäftigen sich mit den Nachwirkungen und Synergien des Nazismus an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Zuletzt erschien von ihm: „Three Faces of Antisemitism: Right, Left and Islamist“ (Routledge).
Aber hat diese Einordnung nicht vielmehr mit der humanitären Katastrophe zu tun, zu der Gaza durch die israelische Gegenoffensive geworden ist?
Lassen Sie mich eines sagen: Dies ist ein furchtbarer Krieg! Wir alle sollten entsetzt sein über Tausende von Menschen, die in diesem Krieg gestorben sind. Sowohl israelische Soldaten als auch Zivilisten in Gaza. Als Historiker stelle ich mir aber die Frage: Warum findet dieser Krieg statt? Ich denke, der Hauptgrund für diesen Krieg sind nicht die Fehler der israelischen Regierung – ich und alle meine Freunde in Israel haben das Netanjahu-Regime stets kritisiert. Der Grund, warum dieser Krieg stattfindet, ist die fundamentalistische Überzeugung der Hamas. Gäbe es die Hamas nicht, wäre keiner dieser Menschen tot. Die Hamas hat 40 Jahre lang klar und unverblümt gesagt, was sie mit Juden tun wird. In diesen vielen Jahren erhielten ihre Drohungen nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienten. Manche tun es bis heute nicht. Das frustriert mich als Historiker.
Die Hamas gibt es erst seit 1987. Das von den Kritikern Israels beklagte Leid der Palästinenser aber gibt es seit der Staatsgründung Israels im Jahr 1948. Sparen Sie diesen historischen Kontext nicht aus?
Wenn wir „die Amerikaner“ oder „die Deutschen“ sagen, wissen wir, dass wir verallgemeinerte Aussagen über komplexe Gesellschaften treffen und dass es viele Deutsche und viele Amerikaner mit unterschiedlichen Meinungen gibt. Dasselbe sollte auch für die Palästinenser gelten. Die Hamas ist eine eigenständige Organisation mit einer eigenständigen Ideologie, die nur behauptet, für die Palästinenser zu sprechen. In Wirklichkeit spricht sie zugunsten ihrer Führer. Ein großer Teil dieses Missverständnisses besteht darin, dass viele die Geschichte einfach nicht kennen. Während des Kalten Krieges betrachteten der Sowjetblock und Teile der westlichen Linken die Sache „der Palästinenser“, vertreten durch die PLO, als ein Sonderanliegen der globalen Linken. In einer Art magischem Denken hat die Hamas, eine Organisation der extremen Rechten, von diesen ideologischen Gewohnheiten profitiert. Es ist absurd, wie Judith Butler zu behaupten, die Hamas sei Teil der globalen Linken. Aber die Propagandabemühungen der Sowjetunion waren sehr erfolgreich darin, Israel als rassistisch und kolonial darzustellen.
Propalästinensische Aktivisten sagen immer wieder: Israel sei 1948 nur durch die Unterstützung ehemaliger Kolonialmächte wie Großbritannien oder von Imperien wie den USA, die Israel als Satellitenstaat nutzen, ermöglicht worden. In Ihrem Buch „Israel’s Moment“ widersprechen Sie dieser These. Warum?
In den entscheidenden Jahren von 1947-49 waren die Sowjetunion, Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei sehr wichtig für die Gründung des Staates Israel. Sowohl durch ihre politische und diplomatische Unterstützung bei den Vereinten Nationen als auch, was die Tschechen betrifft, durch die Lieferung von Waffen an die Zionisten in Palästina. Dies stand in krassem Gegensatz zu der Opposition gegen die Gründung des Staates Israel im britischen Außenministerium und im Außenministerium in Washington, D.C. Deren Argument war ein zweifaches: Erstens dachten sie, dass der Staat Israel ein Verbündeter der Sowjetunion sein würde, da Juden als Sympathisanten der Kommunisten galten. Und zweitens würde der Staat Israel den westeuropäischen und amerikanischen Zugang zum arabischen Öl untergraben. Aus Sicht amerikanischer Linker war der Staat Israel 1948 ein antiimperialistisches Projekt, ein Projekt gegen den britischen Imperialismus und die Kolonialmächte.
Und wann änderte sich diese Sichtweise?
Als Stalin erkannte, dass der neue Staat Israel eher einer sozialdemokratischen Tradition folgte und kein Verbündeter der Sowjetunion sein würde. Zu diesem Zeitpunkt, während der anti-kosmopolitischen Säuberungen in den frühen 1950er Jahren, begann Stalins Propagandaapparat, Israel als ein Produkt des westlichen Imperialismus darzustellen. Diese Geschichte von Zionismus und Imperialismus, von Israel und den USA, entsprach überhaupt nicht den Ereignissen von 1948. Genau das Gegenteil war der Fall. Aber diese Geschichte wurde jahrzehntelang gebetsmühlenartig wiederholt. Jetzt ist sie bei Teilen der westlichen Linken fest verankert, aber es ist nicht das, was passiert ist. Israels wichtigster Verbündeter von 1948 bis 1967 war Frankreich. Und diese Unterstützung kam von französischen Sozialisten, französischen Liberalen und Veteranen der Résistance.
Radikale Stimmen der Gegenwart sagen, Israel sei seit seiner Gründung ein genozidaler Staat, der darauf abzielt, die Palästinenser zu vernichten. Tatsächlich steigt die Zahl der zivilen Opfer im Gazastreifen gerade bedrohlich. Als Historiker, der seit Jahren zu Israels Geschichte forscht: Wie reagieren Sie auf aktuelle Annahmen, dass für das Entstehen und die Popularität der Hamas die Staatsgründung Israels und infolge die sogenannte Nakba, die Vertreibung von geschätzt 750.000 Palästinensern, verantwortlich ist?
Im Jahr 1947 hatte das Arabische Hochkomitee die Möglichkeit, als Ergebnis des UN-Teilungsplans einen eigenen Staat zu bilden. Mohammed Amin al-Husseini, der Großmufti von Jerusalem, ein Nazikollaborateur und damaliger Führer des Arabischen Hochkomitees, traf die schreckliche Entscheidung, stattdessen in den Krieg zu ziehen. Wenn man einen Krieg beginnt und ihn verliert, ist das eine Katastrophe. In diesem Sinne ist der Begriff Nakba, die Katastrophe, anwendbar. Insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges gab es immer wieder Möglichkeiten, einen arabischen Staat im Westjordanland und im Gazastreifen zu gründen. Hamas und PLO haben das stets verhindert. Den Grund dafür findet man in der Hamas-Charta von 1988: Ein jüdischer Staat in Palästina ist in keiner Form akzeptabel. Wenn man alle Kompromisse ausschlägt, muss man die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Konsequenz auch der schreckliche Zustand der Gegenwart ist. Ich denke übrigens auch, dass die Hamas eine große Verantwortung für die Existenz von rechten Regierungen in Israel trägt.
Warum?
Was Israel braucht, ist eine zentristische Regierung links der Mitte. Es braucht nicht die Regierung, die es jetzt hat. Aber die Angst, die die Hamas seit Jahrzehnten verbreitet, hat Netanjahu stets zur Wiederwahl verholfen. Frieden wird es nur geben mit einer Generation von Palästinensern, die die Verantwortung für die Fehler ihrer eigenen Führung nicht auf Israel abwälzt. In Israel gibt es viele Menschen, die die Verantwortung für Fehler ihrer Regierung übernehmen. Sie protestieren jeden Tag gegen Netanjahu und haben auch nach dem 7. Oktober nicht damit aufgehört. Dieser Konflikt hat aber noch immer zwei Seiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten