piwik no script img

Gnadengesuch vor WeihnachtenMutter sitzt im Gefängnis ohne Prozess

Eine Mutter sitzt in Niedersachsen wegen eines Sorgerechtsstreits für 150 Tage in Haft. Sie hatte kein Gerichtsverfahren. Wie kann das sein?

Hier sitzt Anette W. seit November wegen eines Sorgerechtsstreits: Justizvollzugsanstalt für Frauen in Hildesheim Foto: imago/imagebroker

In diesem Jahr lässt Niedersachsens Justiz 56 Menschen im Rahmen der „Weihnachtsgnade“ aus der Haft. Bisher nicht dabei ist die Mutter Anette W., die seit November im Frauengefängnis Hildesheim sitzt, weil das Amtsgericht Hannover für sie 150 Tage Ordnungshaft verhängte. Der Beschluss war ungewöhnlich, weil er nach Familienrecht erging und es kein Gerichtsverfahren gab, das sonst bei einer langen Freiheitsstrafe üblich ist.

Der Heidelberger Professor für Strafrecht Christian Laue vertritt Anette W. und reichte für sie am Donnerstag ein „Gnadengesuch“ beim Niedersächsischen Justizministerium ein. Gleichzeitig beantragte er beim Amtsgericht Hannover, die Ordnungshaft aufzuheben. Der Fall ist mittlerweile auch ein Politikum und steht dafür, wie die Justiz mit Müttern und Kindern umgeht.

Frau W. hat zwei Töchter. Dem Vater war vor fünf Jahren das Sorgerecht übertragen worden, nachdem eine Betreuung im Wechselmodell nicht funktioniert hatte. Im Sommer 2021 fuhr die ältere Tochter mit der Straßenbahn zu ihrer Mutter und weigerte sich, zum Vater zurückzukehren. Dann tauchten Mutter und Tochter gemeinsam unter und zogen nach Frankfurt. Da wurde Anette W. am 6. November verhaftet. Ihre Tochter wurde vom Jugendamt anonym in einer Einrichtung untergebracht. Eine Bekannte, die mit der heute 13-Jährigen zuletzt noch Kontakt hatte, sagt, das Jugendamt hätte ihr eigentlich zugesichert, dass genau das nicht passiert. „Sie hatte große Angst, dass sie weggebracht und isoliert wird, ohne Kontakt zu ihren liebsten Menschen.“

Infolge der Haft schon die Wohnung verloren

Doch auch für die Mutter ist die nun schon sieben Wochen dauernde Haft hart – und sie hat Folgen. Sie musste bereits ihre Wohnung kündigen und bangt um ihren Job. „Meiner Mandantin droht der Verlust ihrer bürgerlichen Existenz, im schlimmsten Fall Obdachlosigkeit“, sagt Anwalt Laue.

Seine Anträge hat er ausführlich begründet. Ein wichtiger Punkt: Anette W. hatte kein Gerichtsverfahren. Sie wurde nicht nach Strafrecht verurteilt. In dem Fall, schreibt der Anwalt, hätte sie ein faires Verfahren gehabt, in dem das Gericht ihre Schuld hätte beweisen müssen. Auch müsse die Justiz beim Strafrecht berücksichtigen, welche schädlichen Folgen ein Freiheitsentzug hat und dem entgegenwirken.

Stattdessen wurde ihre Haft aber als „Ordnungsmittel“ nach Familienrecht verhängt, konkret nach dem schon bei der Einführung 2009 arg umstrittenen Paragraf 89 des Gesetzes über Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG). Die Haft soll zum einen „Erzwingungsfunktion“ zur Herausgabe des Kindes haben, zum anderen auch „Sanktionscharakter“.

Erzwingen müsse das Gericht mit der Haft nichts mehr, da das Kind nicht mehr bei der Mutter ist, argumentiert Laue. Aber auch eine Ordnungshaft zur Sanktionierung eines Menschen müsse verfassungsrechtlichen Vorgaben genügen, die der Jurist hier nicht erfüllt sieht.

Anette W. hatte kein Gerichtsverfahren. Sie wurde nicht nach Strafrecht verurteilt. In dem Fall, schreibt der Anwalt, hätte sie ein faires Verfahren gehabt, in dem das Gericht ihre Schuld hätte beweisen müssen.

Vor allem sei die Schuld nicht bewiesen. Das Gericht fällte den Beschluss im Januar 2025 in Abwesenheit der Mutter und schrieb, sie verantworte „massive Schäden“ für ihr Kind, da es nicht zur Schule gehe. Dem widerspricht ihr Anwalt. „Tatsächlich hat meine Mandantin aber für eine Beschulung ihrer Tochter gesorgt“, sagt Laue. „Sie hatte einen Freundeskreis und war gut in einen Sportverein integriert.“

In England hilft der Staat Müttern aus der Illegalität

Ungewöhnlich findet den Fall auch der Rechtswissenschaftler Ludwig Salgo. „Eine Ordnungshaft von 150 Tagen in dieser Größenordnung ist äußerst selten“, sagt er. Die Maßnahme sei in ihrer Wirkung enorm und ihre Aufrechterhaltung unverhältnismäßig. „Es zielt auf die Mutter, trifft aber das Kind im erschütternden Ausmaß“, so der Wissenschaftler. Natürlich dürfe es keine Selbstjustiz geben. „Aber es gilt stets, die für das Kind am wenigsten schädliche Alternative zu finden. Und da das Kind nicht zum Vater möchte, wäre ein Leben bei der Mutter eine solche“. Der Staat müsse mit seiner Macht umsichtig umgehen, sagt Salgo. „Man muss sich fragen, was treibt Mütter in die Illegalität? Dem ging meist eine höchst problematische Gerichtsentscheidung voraus“.

Salgo zieht den Vergleich mit Großbritannien. Da bietet man Müttern in solchen Fällen „Undertakings“ an, also rechtliche Zusagen, um sie aus der Illegalität zu holen. Dabei wird dem mit Kind untergetauchten Elternteil zugesagt, dass das Kind nicht von ihm getrennt wird, wenn sie aus der Illegalität auftauchen und dies dem Wohl des Kindes entspricht. „Soweit ich es in diesem Fall gehört habe, hat das Kind diese Zeit gut überstanden, wurde beschult und war im Sportverein aktiv.“

Auch Miriam Hoheisel vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) übt Kritik: „Der Fall Frau W. zeigt eindrücklich, dass das Zwangsmittel Ordnungshaft keinen Platz bei der Durchsetzung von familiengerichtlichen Entscheidungen haben darf.“ So eine Haft greife tief und „weiter eskalierend“ in Familiendynamiken ein und führe dazu, dass der Kindeswille missachtet wird. Der VAMV fordert, die Ordnungshaft aus dem Gesetz zu streichen.

Stand Freitagmittag erklärt der Sprecher des Justizministeriums, das Gnadengesuch sei noch nicht eingegangen. Er werde aber am Montag noch einmal nachfragen. Das Amtsgericht Hannover bestätigt der taz immerhin, dass Laues Antrag zur Freilassung seiner Mandantin dort einging. Man werde, so ein Sprecher, „zeitnah“ entscheiden.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • So etwas kommt in D vor?! Ein Land, das sich ziviliert nennt, in christlichen Traditionen gebunden. Wirklich? Ist es nicht unglaubliche Feigheit von gewissen Beamten, Staatsdienern, die sich haarklein auf irgendwelche unsinnigen, bürokratischen Unsinn berufen und dabei Menschlichkeit, Weitsicht und vor allem das Wohl des Kindes völlig ignorieren?