Gewalt gegen Politiker*innen: Die Gesellschaft verroht
Noch nie war der Wahlkampf auf der Straße so gefährlich wie heute. Im Gegenzug ist eine Politik nötig, die die Nöte der Menschen ernst nimmt.
S tellen Sie sich vor, Sie seien schon lange mit der Ampel-Regierung unzufrieden. Deshalb nutzen Sie einen öffentlichen Auftritt von Olaf Scholz, um ihn mit gezielten Schüssen aus der Welt zu schaffen. Genau das ist diese Woche dem slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico passiert. Der Politiker, der nach einer Kabinettssitzung in einer slowakischen Kleinstadt von vier Schüssen getroffen wurde, liegt auf der Intensivstation. Wie der slowakische Innenminister bekannt gab, sei der 71-jährige Täter mit der politischen Entwicklung in der Slowakei unzufrieden gewesen.
Nun ist es nicht so, dass ein Attentat dieser Art eine singuläre Erscheinung ist. Immer wieder kommt es zu politisch motivierten Anschlägen auf Politiker und Journalisten. Auch in der Slowakei, wo erst 2018 der Investigativjournalist Ján Kuciak und seine Verlobte Martina Kušnírová ermordet wurden.
Die zunehmende Verrohung von Politik und Gesellschaft zeigt sich längst nicht mehr allein in verbalen Entgleisungen, etwa den Kommentarspalten der Zeitungen. Immer häufiger werden Politiker und Journalisten direkt angegriffen. Jüngste Beispiele sind die Angriffe im Zusammenhang mit dem Europa-Wahlkampf. Erst Anfang Mai wurde der sächsische EU-Spitzenkandidat der SPD, Matthias Ecke, beim Aufhängen von Wahlplakaten krankenhausreif geschlagen.
Wenige Tage später werden, ebenfalls beim Plakatehängen in Dresden, zwei Politiker der Grünen bespuckt. Im Januar wurde Wirtschaftsminister Habeck bei seiner Rückkehr aus einem privaten Urlaub von aufgebrachten Landwirten am Verlassen einer Fähre gehindert. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen: Brandanschläge auf Wahlbüros und Privathäuser von Politikern, tätliche Angriffe auf Lokalpolitiker und Wahlkampfhelfer sind mittlerweile an der Tagesordnung.
Politiker als Gegner
Das politische und gesellschaftliche Klima wird rauer. Viele Menschen sehen offenbar keine Möglichkeit mehr, sich mit demokratischen Mitteln für ihre Interessen einzusetzen. Indem sie selbst politisch oder zivilgesellschaftlich aktiv werden.
Wenn Menschen sich aber nicht mehr als politische Subjekte, sondern nur noch als Objekte begreifen, wenn sie die Politiker nicht mehr als Volksvertreter, sondern als Gegner, ja als Feinde betrachten, dann läuft etwas grundlegend schief.
Und diese Unzufriedenheit zeigt sich nicht nur im Wahlverhalten, sondern auch in wachsender Gewalt. Wer meint, mit verstärktem Personenschutz und flammenden Demokratieplädoyers, so wichtig und richtig diese auch sind, dem Problem beikommen zu können, liegt falsch. Denn hier geht es um die Grundfeste der Demokratie. Nötig ist eine Politik, die die Alltagssorgen der Menschen ernst nimmt und vertritt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste