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Gaza-Demo in BerlinDer Nahost-Diskurs öffnet sich

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Die Großdemo zeigt: Israel-Kritik wird zunehmend möglich. Die Proteste sollten sich angesichts der deutschen Geschichte aber nicht radikalisieren.

Zehntausende demonstrieren in Berlin für das Ende des Krieges in Gaza Foto: Reuters

N icht erst seit dem 7. Oktober 2023, dem Terror-Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten, steht, wer mit Palästina sympathisiert, in Deutschland unter Verdacht. Die großkalibrige Waffe in dieser diskursiven Schlacht heißt Antisemitismus.

Spätestens seit 2019, dem BDS-Beschluss des Bundestages, herrscht ein Klima der Unterstellung, des Ungenauen, Undifferenzierten. Es regiert die Staatsräson, in der die erste Bürgerpflicht zu sein scheint, bloß nichts Falsches zu sagen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Benjamin Netanjahu glaubte, eine Ausstellung in Berlin, die ihm missfiel, zensieren zu können.

Nun gibt es Anzeichen, dass dieses stickige Klima kippt. Mehrere 10.000 Menschen haben in Berlin friedlich und freundlich gegen die maßlosen Kriegsverbrechen in Gaza und die deutsche Unterstützung demonstriert. Warum jetzt?

Der wesentliche Grund liegt in Israel selbst. Die brutale, expansive Politik von Netanjahu und seiner rechtsradikalen Regierung lässt sich auch mit dem allergrößten Wohlwollen nicht mehr in Einklang mit Völkerrecht oder Menschenrechten bringen.

Antisemitismus ist real, die Kriegsverbrechen auch

Dass Netanjahu vor den fast leeren Rängen der UN-Vollversammlung einen palästinensischen Staat mit einem IS-Staat in den USA nach 9/11 verglich, zeigt, dass diese Regierung in einem paranoiden Paralleluniversum versunken ist, einem Spiegelkabinett eigener Hybris.

Ein Nebeneffekt der nicht mehr zu leugnenden israelischen Verbrechen im Gazastreifen und im Westjordanland ist, dass den Anhängern der Staatsraison hierzulande die Argumente ausgehen. Im Wesentlichen halten nur noch CSU und AfD Netanjahu noch für einen Kämpfer gegen den Terror.

In Deutschland existiert ein virulenter Antisemitismus. Dass es Straßen gibt, die man besser nicht mit Kippa oder Davidstern frequentiert, ist skandalös – gerade in Deutschland. Aber die NS-Zeit und die staatlich kanonisierte Geschichtspolitik dürfen nicht den Blick für die Verbrechen trüben, die das israelische Militär systematisch verübt.

Die Erinnerung an das von Deutschen begangene Menschheitsverbrechen nimmt selbst Schaden, wenn es zu einem Schutzschild wird, um sich den Schrecken vom Leib zu halten, der jetzt in Gaza passiert.

Die Bitterkeit der Gaza-Aktivisten

In Deutschland öffnen sich nun diskursive Fenster, die lange verriegelt waren. Dazu gehört auch, dass Palästinenser, die in Deutschland leben, nicht mehr advokatorisch vertreten werden, sondern, wie auf der Demo in Berlin, selbst sprechen. Sie treten als ernstzunehmende politische Subjekte auf – und verstummen nicht mehr unter einem instrumentellen, generalisierten Antisemitismus-Verdacht.

Und jetzt? Manche Protestbewegungen müssen überspitzen, radikale Forderungen stellen, um gehört zu werden. Das war in Phasen der Frauenbewegung, der Anti-Atom-Bewegung, der Friedensbewegung so. Bei der Pro-Palästina-Bewegung wäre Radikalisierung der falsche Schritt.

Man kann verstehen, wenn AktivistInnen, die sich vor ein paar Monaten noch unter allgemeinem Nicken als Antisemiten verleumden lassen mussten und heute fast Vorboten eines neuen Mainstreams sind, eine gewisse Bitterkeit empfinden. Aber Bitterkeit, retrospektive Rechthaberei führen nie nach vorn. Radikalisierung wäre keine nötige Aufmerksamkeitsproduktion, sondern regressiver Rückweg in die Selbstisolation.

Diese Bewegung wird nur erfolgreich sein, wenn sie eine Verbindung zur Mitte herstellen kann – zu Kirchen, Gewerkschaften, Mitte-Parteien. Und es gibt ja vernünftige, realpolitisch umsetzbare Forderungen, die die meisten Deutschen teilen: Stopp aller Waffenexporte nach Israel, Anerkennung Palästinas, und, vielleicht am wichtigsten, Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel. Es ist eine Frage politischer Klugheit, ob die Akteure der Bewegung verstehen, dass ihr Adressat die noch immer zögerliche, ängstliche Mitte sein sollte.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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