Demo gegen „Mietenwahnsinn“ in Berlin: „Nicht den Deckel, den ganzen Topf“

In Berlin demonstrieren Tausende gegen horrende Mieten. Viele Teil­neh­me­r*in­nen sehen in Enteignungen von Konzernen den letzten Ausweg.

Boote fahren auf dem Landwehrkanal, Demonstranten machen darauf auf steigende Miete aufmerksam

Hausboote schipperten am Sonntag vom Urbanhafen herunter bis zur CDU-Zentrale am Herkulesufer Foto: Carsten Koall/dpa

BERLIN taz | Inmitten des Getümmels der Berliner Demonstration „Gegen den Mietenwahnsinn – Jetzt erst Recht!“ am Sonntag Mittag stehen etwa zehn Frauen in einem Halbkreis. Sie haben sich Papphäuser gebastelt und tragen sie als Hüte. Es ist der linksfeministische Frauenchor „Judiths Krise“, der im feinsten Kanon „Wohnen ist ein Menschenrecht“ und „Wem, wem, wem gehört die Stadt“ singt.

Daneben zieht ein lila-gelbes Fahnenmeer vorbei. Der Block des Berliner Volksbegehrens „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ skandiert die Namen der größten Berliner Wohnungskonzerne. Es folgt der kraftvolle Ausruf: „Enteignen!“. Im Hintergrund ist ein großes Transparent zu sehen, auf dem „Die Stadt gehört uns“ zu lesen ist. Daneben abgebildet: eine brennende Mieterhöhung.

Etwa 10.000 Menschen sind laut der Ver­an­stal­te­r:in­nen zur „Mietenwahnsinn-Demonstration“ unter diesem Motto gekommen. Die Polizei nannte eine vorläufige Teil­neh­me­r:in­nen­zahl von lediglich 2.000. Für einen Sprecher des Mietenwahnsinn-Bündnisses ist das eine „absurde“ Einschätzung. Zwischenfälle oder Probleme mit Verstößen gegen die Corona-Regeln wurden laut Polizei nicht bekannt.

Der Demostart verzögerte sich. Erst 35 Minuten nach Start des ersten Blocks habe sich das Ende des Zuges in Bewegung gesetzt. Hochgehalten wurden Schilder, auf denen etwa „Meine Miete chillt auf den Bahamas“ oder „Dann halt enteignen!“ zu lesen war. Ein kleiner Junge trug ein Plakat mit der Aufschrift: „Ich will auch noch mit 20 in Berlin leben“.

Potsdamer Platz – Schöneberg – Nollendorfplatz

Vom Potsdamer Platz ausgehend bewegte sich der Protestzug in Richtung Schöneberg und schlug dort eine Schleife über die Pallas-, Martin-Luther- und Kleiststraße bis zum Endpunkt Nollendorfplatz. Applaus brach schon kurz nach Start aus, als eine zeitgleich auf dem Landwehrkanal stattfindende Bootsdemo die Potsdamer Brücke passierte. Die Hausboote schifften vom Urbanhafen herunter bis zur CDU-Zentrale am Herkulesufer.

Der Protest ist eine klare Reaktion auf das kompromisslose Kippen des Berliner Mietendeckels durch das Bundesverfassungsgericht Mitte April. Bereits am Abend der Urteilsverkündung hatte es etwa 15.000 Ber­li­ne­r:in­nen auf die Straße gezogen. Nun fordern sie nicht mehr „nur den Deckel“, sondern gleich „den ganzen Topf“, wie es etwa auf einem Demoflyer formuliert ist.

Demonstranten sammeln sich auf dem Potsdamer Platz

Der Potsdamer Platz war der Startpunkt der Demo Foto: Christoph Soeder/dpa

Neben den Mietpreisen, die laut einer Analyse von Immoscout bereits jetzt um 7% in die Höhe geschnellt sind, kritisierte das Bündnis in einer Pressemitteilung im Vorfeld auch „tausende Zwangsräumungen jährlich“ und dass Tausende Ber­li­ne­r:in­nen ohne Wohnung oder Obdach dastünden.

Erschienen sind auch einige Mie­te­r:in­nen der Blaczko GmbH & Co., jener Hausverwaltung, die nach dem Mietendeckel-Urteil Rundmails mit dem Titel „Zu früh gefreut!“ verschickte. Unterzeichnet war die E-Mail mit dem englischen Akronym „FY“, was wohl für „Fuck You“ stehen dürfte. Eine Mieterin berichtet auf der Demo von Einschüchterungsversuchen durch die Hausverwaltung.

Abmahnung wegen angeblicher Hetze

Sie verteilt einige Flyer für die Mie­te­r:in­nen­in­itia­ti­ve, die sich in Reaktion auf die Rundmail gegründet hatte. „Sie haben mir eine Abmahnung wegen angeblicher Hetze durch den Türschlitz durchgeschoben“, erzählt sie. Zudem hätten Unbekannte versucht, ihren Briefkasten aufzubrechen. „Wenn ich nicht die Initiative hinter mir wüsste, ich würde mich Zu Hause nicht mehr sicher fühlen“, sagt sie.

Ein älteres Ehepaar erzählt, sie würden seit 1984 im Prenzlauer Berg wohnen. „Wir sind die letzten DDR-Bürger dort“, erzählt der Ehemann in nur leicht scherzendem Ton. „Alle 18 Monate flattert eine Mieterhöhung ins Haus“, sagt er. Auch für längst abbezahlte Modernisierungen würden sie weiter monatlich berappen. „Es gibt bei uns so gut wie keine Kiezstrukturen mehr“, fügt die Ehefrau hinzu. „Gerade jetzt, wo der Mietendeckel weg ist, bleibt da eigentlich nur noch die Enteignung.“

Als der Protestzug am selbstverwalteten Jugendzentrum „Potse“ in der Potsdamer Straße vorbeizieht, zeigen Ak­ti­vis­t:in­nen aus den Fenstern des autonomen Jugendclubs mit Pyrotechnik ihre Solidarität. Eine Aktivistin spricht vom Lautsprecherwagen aus über die Wichtigkeit selbstverwalteter Strukturen. Die „Potse“ ist seit Silvester 2018 besetzt und damit permanent räumungsbedroht.

Erst am Montag wurde der ursprünglich für Mittwoch festgesetzte Räumungstermin in letzter Minute verschoben, um einen Umzug ohne polizeilichen Großeinsatz in Ersatzräume im ehemaligen Flughafen Tempelhof zu ermöglichen. Die Demonstration endete am Nollendorfplatz mit Musik und Redebeiträgen. Es wird sicher nicht die letzte Demonstration für Enteignungen großer Wohnungskonzerne in Berlin gewesen sein.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.