Debatte um Berliner Silvesterkrawalle: Ein rassistischer Haufen Mist
Klar: Angriffe auf Rettungskräfte sind eine rote Linie. Doch der Diskurs über die Berliner Silvesterkrawalle ist völlig entgleist.
D ie Debatte über Böllerverbote gehört in Berlin ja zur Neujahrs-tradition dazu wie „Dinner for One“ und Jugendliche, die sich gegenseitig mit Raketen abschießen. Jedes Jahr, die Pandemie ausgenommen, entdecken irgendwelche Kommentator:innen oder Politiker:innen eine neue Stufe der Eskalation. Die Rufe nach Böllerverboten folgen dann stets auf dem Fuße. Der Ton dieser Debatte ist meist rau, denn alle Argumente sind längst ausgetauscht und die Fronten verhärtet. The same procedure as every year.
Diesmal wurde aber tatsächlich eine neue Eskalationsstufe erreicht. Allerdings nicht unbedingt hinsichtlich der Ausschreitungen in der Silvesternacht, obwohl die heftig waren: Beamt:innen wurden verletzt, Barrikaden brannten, ein Reisebus brannte aus, nicht nur die Polizei, auch Rettungskräfte wurden auf das Heftigste mit Pyros beschossen. Die Feuerwehr redet von Hinterhalten, die Rettungskräfte konnten wohl teils nur unter Polizeischutz Löscharbeiten leisten. Ein Jugendlicher warf einen Feuerlöscher auf einen Krankenwagen, sodass die Scheibe zerbarst.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ganz klar: Angriffe auf Rettungskräfte sind eine rote Linie, die Konsequenzen nach sich ziehen müssen. Aber dieses Jahr hat sich der Diskurs so schnell in einen rassistischen Haufen Mist verwandelt, dass man sich übergeben möchte. Unisono sprachen sich Boulevardzeitungen, bürgerliche Presse, rechte Politiker:innen bis hin zur SPD und vermeintliche Expert:innen Mut zu, die „unbequeme Wahrheit“ auszusprechen: Die Krawalle seien ein „Migrationsproblem“, so Bild.
Der Fokus verengte sich sofort
Geredet wurde quasi sofort nur noch über den migrantisch geprägten Bezirk Neukölln, nicht etwa über die Ausschreitungen im Stadtrandkiez Lichtenrade, wo Vermummte (unbekannter Herkunft) die Feuerwehr mit Latten und Pfefferspray attackiert haben sollen.
Ignoriert wurde, dass die Zahl der Menschen, die tatsächlich vorsätzlich Rettungskräfte attackierten, nicht größer als einige Hundert gewesen sein dürfte. Dass, wie die taz aus gut informierten Kreisen weiß, durchaus auch weiße Student:innen aus bürgerlichen Verhältnissen mit Schreckschusswaffen und Pyrotechnik hantierten. Der Fokus verengte sich sofort, in den Worten des CDU-Politikers Christoph de Vries, auf den „Phänotypus: westasiastisch, dunklerer Hauttyp“.
Viel gefährlicher als jede Böllerei ist diese Gesellschaft, in der ein solch widerlicher Rassismus längst bis in die Mitte hinein sagbar geworden ist. Zufall ist die völlige Entgleisung dieser Debatte aber nicht. Auf die bösen Ausländer zu zeigen, wenn es eigentlich um Klassenfragen geht, ist schließlich eine Kernstrategie des reaktionären Bürgertums. Denn geballert und randaliert wird zumeist in abgehängten Vierteln – in „sozialen Brennpunkten“, wie man so hässlich sagt –, die, so ist es im rassistischen Kapitalismus nun mal, migrantisch geprägt sind.
Für manche mag schockierend sein: Menschen, die sich ihr Leben lang mit einem ihnen gegenüber übermächtigen System herumschlagen müssen – mit Lohnarbeit, Miethaien, Ausländerbehörden, Jobcentern –, können es als Befreiung empfinden, mit einer Schreckschusspistole herumzuballern und etwas hochzujagen. Das macht die Randale weder politisch im engeren Sinne noch entschuldigt es Angriffe auf Rettungskräfte.
Aber wie heißt es in einem alten Lied der Hausbesetzerszene: „Leute seht genau hin / woher kommt denn die Gewalt / am Anfang war doch nicht der Pflasterstein“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe