Debakel um Saar-Grüne: Zu lange weggeschaut

Bei der Bundestagswahl sind die Grünen im Saarland nicht mit der Zweitstimme wählbar. Derweil gibt es Rufe nach einem „echten Neuanfang“ an der Saar.

Jeanne Dillschneider bei einer Parteitagsabstimmung

Zu früh auf ein Bundestagsmandat gefreut: Saar-Grünen-Spitzenkandidatin Jeanne Dillschneider Foto: Oliver Dietze/dpa

BERLIN taz | Es ist ein Debakel für die Grünen und für ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock: Im September wird die Partei nicht in allen Bundesländern mit der Zweitstimme wählbar sein. Denn wer sie im Saarland wählen will, wird damit noch bis zur Bundestagswahl 2025 warten müssen. Mit der Nichtzulassung ihrer Saar-Liste bekommt die Partei die Quittung dafür, sich über Jahrzehnte hinweg nicht ausreichend um die merkwürdigen Verhältnisse in ihrem kleinen Landesverband an der französischen Grenze gekümmert zu haben.

Das grüne Problem an der Saar hat einen Namen: „Die Ursache des Desasters liegt in der langjährigen Dominanz und Rekrutierungspolitik des früheren Landes- und Fraktionsvorsitzenden Hubert Ulrich, der mit den Delegierten seines Heimatortes Saarlouis und anderen Ortsverbänden, die er kontrolliert und dirigiert, eine unheilvolle Geschichte des Landesverbandes geschrieben hat und bis heute schreibt“, sagt die frühere Grünen-Bundesvorsitzende Simone Peter, die selbst aus dem Saarland stammt und Ulrichs Treiben lange aus der Nähe miterlebt und -erlitten hat.

Tatsächlich stützt sich Ulrich, der seit Anfang der 1990er Jahre bei den Saar-Grünen die Fäden zieht, auf eine geradezu wundersame Stärke seines Ortsverbandes in Saarlouis, einer kleinen Stadt mit nur 34.400 Einwohner:innen, aber angeblich rund 720 Grünen-Mitgliedern. Damit stellt er mehr als ein Drittel der Delegierten auf den Landesparteitagen. Seine Prätorianergarde ermöglichte es Ulrich, parteiinterner Spitzname „der Panzer“, sowohl diverse Skandale als auch verlorene Landtagswahlen zu überstehen. Immer wieder schaffte der „Mafioso“, wie ihn Daniel Cohn-Bendit einmal in einem taz-Interview bezeichnet hat, das Comeback.

So sah es auch diesmal wieder aus, als sich der inzwischen 63-Jährige am 20. Juni zum Spitzenkandidaten im Saarland wählen ließ – unter Missachtung des grünen Frauenstatuts. Die grüne Regel, wonach Listenplatz eins für eine Frau freigehalten werden muss, hatten die Saar-Grünen auch schon bei den vorangegangenen Bundestagswahlen einfach ignoriert. Gekippt wurde die erste Listenaufstellung schließlich, weil auch nicht stimmberechtigte Parteimitglieder mitgewählt hatten.

Auschluss von einem Drittel der Parteitagsdelegierten

Kurz vor dem zweiten Anlauf am 17. Juli traf das Bundesschiedsgericht dann jene Entscheidung, die jetzt zu der Nichtzulassung der grünen Liste im Saarland geführt hat: Weil drei nicht stimmberechtigten Parteimitgliedern von außerhalb die Teilnahme an der Versammlung, auf der Mitte Mai der Ortsverband Saarlouis seine 49 Parteitagsdelegierten gewählt hatte, verwehrt worden war, entzog das Parteigericht den Delegierten das Stimmrecht.

Auf dem Parteitag wurde dann an Ulrichs Stelle die 25-jährige Jeanne Dillschneider gewählt, die ihm noch im Juni unterlegen war. Die Grüne-Jugend-Landessprecherin erhielt 56 Stimmen, 27 Delegierte votierten gegen sie und 3 enthielten sich. Wären ihre Par­tei­freun­d:in­nen aus Saarlouis stimmberechtigt gewesen, hätte es für sie nicht gereicht.

Der Ausschluss der saarlouiser Delegierten war eine Fehlentscheidung, befand am Donnerstag der Bundeswahlausschuss mehrheitlich. Nach 80-minütiger Beratung entschied sich das Gremium mit sechs Ja- gegen zwei Nein-Stimmen bei zwei Enthaltungen für die Nichtzulassung der Saar-Grünen-Liste. Dagegen stimmten nur die beiden Vertreter der SPD und der Linkspartei, Johannes Risse und Jörg Schindler. Der von den Grünen entsandte Hartmut Geil nahm wegen Befangenheit nicht an der Abstimmung teil: Der Bielefelder Rechtsanwalt ist Vorsitzender des grünen Bundesschiedsgerichts.

Es sei „wahlrechtlich irrelevant“, dass die Parteiöffentlichkeit bei der Delegiertenaufstellung in Saarlouis nicht vollständig hergestellt gewesen sei, sagte Bundeswahlleiter Georg Thiel. Der Ausschluss der Delegierten sei hingegen ein „Verstoß gegen den Kernbestand von Verfahrensgrundsätzen“. Wahlgrundsätze hätten Vorrang vor parteiinternen Regelungen.

„Ohne die Machtclique“

Sie hätte sich eine andere Entscheidung des Bundeswahlausschusses gewünscht, sagt Simone Peter. „Denn innerparteiliche Demokratie und Vielfalt wurden über Jahre gerade von denen missachtet, die sie jetzt einfordern, und die dafür verantwortlich sind, dass Grüne im Saarland nicht mit der Zweitstimme gewählt werden können.“

Die Entscheidung des Bundeswahlausschusses ist bitter für die Grünen. „Wenn es bei der Wahl knapp wird für das Kanzleramt oder für eine Regierungsbeteiligung, könnten den Grünen am Ende entscheidende Stimmen aus dem Saarland fehlen“, sagte der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer der Rheinischen Post. „Die symbolische Wirkung ist aber wahrscheinlich noch größer als die rein quantitative.“

Und was wird aus den Saar-Grünen? „Ein echter Neuanfang muss jetzt mit Hilfe des Bundesvorstands und ohne die Macht­clique um Hubert Ulrich organisiert werden“, fordert Ex-Grünen-Chefin Peter. „Nur so werden Grüne im Land wieder wählbar.“

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