Coronavariante EG.5.1.: Neue deutsche Welle

Die neue Corona­variante Eris ist in Deutschland angekommen. Die Sorge vor einer neuen Welle wächst – dabei ist das Land nicht gut vorbereitet.

Eine blaue Gesichtsmaske liegt im Dreck

Die Inzidenzen gehen hoch, die Masken bleiben noch unten Foto: Stefan Boness/Ipon

BERLIN taz | Gott sei Dank ist für Deutschland die Pandemie vorbei“, erklärte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im April dieses Jahres noch im Bundestag: Man habe durch Impfungen und Infek­tio­nen „eine gute Immunität in der Bevölkerung“. Jetzt gelte es, die Lage jener zu verbessern, die am meisten unter den Maßnahmen gelitten hätten, insbesondere die Kinder. Auch die WHO hat im Mai den internationalen Gesundheitsnotstand aufgehoben, dabei aber darauf hingewiesen, dass das Virus damit nicht besiegt sei.

Nicht mehr pandemisch, aber trotzdem noch gefährlich: Meldungen über die neue Variante EG.5.1. scheinen diese Analyse zu bestätigen. EG.5.1. (Eris) gilt als seit 9. August als „variant of interest“, Variante von Interesse, laut WHO unterscheidet sich der Phänotyp zwar nicht grundlegend von anderen Omikron-Linien und erfordert keine gesonderten Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit.

Aber in Großbritannien, China und den USA nimmt der Anteil von Eris stetig zu, in Deutschland weisen Zahlen aus dem Abwassermonitoring darauf hin, dass die Eris-Welle sich aufbaut. Der britische Boulevard spricht von der „Barbenheimer“-Welle, wobei freilich alle geschlossenen öffentlichen Räume ohne Luftfilter das Problem sind und nicht nur Kinos, in denen die aktuel­len Blockbuster „Barbie“ und „Oppenheimer“ laufen.

Mit dem verkündeten Ende der Pandemie sind in Deutschland auch quasi alle Pflichten zu Schutzmaßnahmen aufgehoben worden. Wichtigstes Ins­trument im Kampf gegen Covid-19 ist damit die Immunisierung der Bevölkerung durch Infektion oder Impfung. Selbst die Überwachung der Virusverbreitung wurde zurückgefahren: Seit Mai 2023 gibt es keine regelmäßigen Updates mehr vom zuständigen Robert-Koch-Institut. Covid-19 ist zu einer Erkrankung von vielen erklärt worden.

Doppelt betroffen

Akut von der sich aktuell aufbauenden Welle bedroht sind Kliniken. Das betrifft insbesondere Kinderambulanzen, die bereits jetzt am Rand ihrer Belastbarkeit stehen. Florian Hoffmann, Generalsekretär der Deutschen Interdiszi­pli­nären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, sagte im Mai der Funke-Mediengruppe: „Die Lage der Kinder­kliniken ist dramatisch und wird sich eher noch verschärfen.

In vielen deutschen Kinderkliniken können auf den Kinderintensivstationen im Schnitt ein Drittel der Betten wegen Personalmangels nicht genutzt werden. In manchen Kliniken ist sogar die Hälfte nicht mehr belegbar.“ Sobald es zu Infektionswellen komme, habe man keine Chance mehr, alle Pa­ti­en­t*in­nen zu versorgen.

Corona trifft die Kliniken dabei in mehrerlei Hinsicht: Es sind nicht nur die schwer erkrankten Patienten, die versorgt werden müssen, es werden auch mehr Mitarbeitende krank. Obendrein zieht Covid-19 das Immunsystem in Mitleidenschaft, so dass auch die kritischen Fälle bei anderen Erkrankungen ansteigen.

Während vergangenes Jahr noch Schutzmaßnahmen beschlossen wurden, um diese Wellen aufzufangen oder zumindest abzufedern, ist davon aktuell nicht die Rede. Manche Kliniken werden deswegen selbst aktiv: In der Notaufnahme des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel zum Beispiel gilt aktuell vorerst Maskenpflicht.

4,5 Prozent der Infizierten entwickeln Long Covid

Jenseits akuter Belastungen wegen der anstehenden Welle stellt sich die Frage nach langfristigen Belastungen. Nach einer Ansteckung mit Delta entwickelten ungefähr 10 Prozent aller Infizierten Long Covid mit Symptomen, die über drei Monate andauern. Ungefähr 50 Prozent der Menschen war so stark eingeschränkt, dass ein Leben wie vor der Infektion nicht mehr möglich war.

Mit Omi­kron scheint sich diese Zahl gesenkt zu haben: Eine Studie aus Großbritannien kommt zu dem Ergebnis, dass 4,5 Prozent der Omikron-Infizierten Long Covid entwickeln. Allerdings ist noch nicht bekannt, wie stark Mehrfachinfizierungen das Risiko erhöhen oder wie hoch die Zahl bei neuen Varianten sein wird.

Carmen Scheibenbogen, eine der führenden Ex­per­t*in­nen zum ins Long Covid-Spektrum gehörenden chronischen Erschöpfungssyndrom (ME/CFS), moniert in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur, dass die Krankheit trotz ihrer relativen Häufigkeit kaum erforscht sei und auch „vielen Ärzten nicht gut bekannt ist“, außerdem gebe es kaum Versorgungsstrukturen. Rund 10 Millionen Euro pro Jahr bräuchte es ihrer Meinung nach, um deutschlandweite Studien durchzuführen.

Mittel zur Erforschung sind aufgestockt worden

Dank des anhaltenden Drucks von Betroffenen und der Wissenschaft sind inzwischen die Mittel zur Erforschung aufgestockt worden; allerdings fehlt bisher noch immer eine digitale Infrastruktur, um Versorgungsdaten zu erheben.

Sozial gesehen bedeutet nach Auslaufen der Schutzmaßnahmen eine neue Welle die Verschärfung der Segregation von Risikogruppen. Das Credo der Eigenverantwortung sorgt für ihre Verdrängung aus öffentlichen Räumen.

Allerdings sind dieser Eigenverantwortung Grenzen gesetzt: Vulnerable mit Kontakt zu Schulkindern sind in ständiger Gefahr, sich zu infizieren, weil die Maßnahmen (wie zum Beispiel Luftfilter) an den Schulen schrittweise zurückgefahren oder ganz aufgehoben werden. Für jene Risikogruppen bleibt die Hoffnung auf Entwicklung potenter Medikamente und effektiverer Impfstoffe, weil erneute Schulschließungen kategorisch ausgeschlossen wurden und auch die Möglichkeit einer Aufhebung der Präsenzpflicht nicht weiter diskutiert wurde.

Personalmangel wird zusätzlich verschärft

Mittelfristig stellt sich auch die Frage, wie gut die soziale Infrastruktur in Deutschland die Folgen weiterer Wellen verkraftet. Unter an Long-Covid-Betroffenen sind überdurchschnittlich viele Beschäftigte aus Gesundheits- und Betreuungsberufen, wie eine Datenanalyse der AOK Nordost zeigt, insbesondere Er­zie­he­r*in­nen und Altenpfleger*innen. Das verschärft den ohnehin schon schwerwiegenden Personalmangel in diesen Bereichen.

Ein weiterer möglicher Langzeitschaden der Pandemie wurde hingegen noch kaum untersucht: inwiefern dadurch das Vertrauen in die Politik nachgelassen hat. Aber so viel ist bekannt: Im Jahr 2020 waren dem „Deutschlandtrend“ zufolge 60 Prozent der Bevölkerung zufrieden mit der regierenden Großen Koalition. Die jetzige Ampelregierung kommt in der aktuellen Umfrage auf 21 Prozent Zustimmung.

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