Black-Lives-Matter-Protest in Deutschland: Es ist nicht mehr zu ertragen

Nach dem Tod von George Floyd in Minneapolis haben auch in Deutschland über hunderttausend Menschen gegen Rassismus protestiert. Warum erst jetzt?

Eine Goildene Fahne mit einer schwarzen Faust inmitten tausender Demonstranten.

Der Alexanderplatz in Berlin war nur ein Ort von vielen, an denen am Wochenende demonstriert wurde Foto: Pierre Adenis

Warum jetzt erst? Diese Frage stellen sich viele Menschen nach dem vergangenen Wochenende, an dem noch mitten in der Coronapandemie deutschlandweit über hunderttausend Menschen gegen Rassismus demonstriert haben. Warum jetzt? Wo wir doch im Land der NSU-Morde leben; dem Land der rassistischen Pogrome, auf dessen Landkarte Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Halle und Hanau zu finden sind. Und die Leute gehen jetzt erst auf die Straße?

Abgesehen davon, dass das nicht ganz stimmt – beispielsweise demonstrierten schon 2018 über 200.000 Menschen unter dem Motto „Unteilbar“ in Berlin gegen Rassismus – irritiert nicht die Tatsache, dass nun so viele Menschen demonstrieren, sondern es irritiert zunächst die Frage selbst ein wenig. Weil die Antwort banal erscheint: Die Menschen begehren auf, weil sie die Schnauze voll haben von schreiender Ungerechtigkeit. Und es sind vor allem junge Menschen, die Ungerechtigkeit nicht mehr hinnehmen möchten.

Sicherlich sind die Radikalität der Proteste in den USA und auch die protestierenden Menschenmassen weltweit dem Umstand geschuldet, dass der unerträgliche Tod von George Floyd durch ein Video weltweit unmittelbar erfahrbar wurde. Aber zugleich ist dieses Video nicht das erste seiner Art. Und eigentlich ist es nur die bildliche Manifestation von etwas, über dessen Existenz wir schon sehr lange Bescheid wissen. Aber warum jetzt so vehement, so kompromisslos, so angstfrei? Vielleicht weil mittlerweile viel zu oft erlebt wurde, dass diese Ungerechtigkeit nicht mit den Mitteln zu beseitigen ist, die das gegenwärtige System den Menschen bietet.

Tausende Menschen stehen auf einem Platz.

Insgesamt demonstrierten in Deutschland ungefähr hundertausend Menschen gegen Rassismus Foto: Christian Mang

Vielleicht jetzt so heftig und so entschlossen, weil sich die gegenwärtige Wut aus der Summe all der vergangenen Verletzungen speist, mitsamt der darauf folgenden Enttäuschungen darüber, dass versprochene Gerechtigkeit nicht einkehrt.

Vielleicht jetzt so, weil jetzt Quantität in Qualität umschlägt.

Die Erniedrigungen haben möglicherweise eine Zahl erreicht, die sich nicht mehr in einen normalen Alltag integrieren lässt, nicht mehr zu ertragen ist – weshalb jetzt, in Reaktion auf die Quantität, also die lange Geschichte der Erniedrigungen, eine qualitative Veränderung eintritt, eintreten muss.

Die Menschen begehren auf, weil sie die Schnauze voll haben

Andere qualitative Veränderungen wie die weltweit sehr kurz gewordenen Kommunikationswege mögen diesen Prozess beschleunigen. Und auch eine junge Generation, die so kommuniziert, aber ohnehin lebensweltlich so kosmopolitisch sozialisiert ist wie keine Generation vor ihr; eine Generation, die sich nicht einreden lassen möchte, dass die Welt eine Welt von Nationen und Kulturen ist, die es streng zu unterscheiden gilt.

Viele Menschen, die am Wochenende auf die Straße gegangen sind, dürfte es deshalb auch irritieren, wenn ältere Kommentatoren im Zusammenhang mit der Frage „Warum jetzt erst?“ von „Türken“ und „Arabern“ als „unsere Schwarzen“ schreiben, was nicht nur deshalb bedenklich ist, weil es auch Schwarze Deutsche gibt und es keine „Türken“ braucht, damit diese das US-amerikanische Äquivalent spielen können. Oder wenn im postmigrantischen Milieu ein Überbietungswettbewerb darüber beginnt, wer denn nun am meisten betroffen ist: gar nicht die Türken, sondern die Aleviten und Kurden?

Natürlich hat Rassismus seine spezifische Geschichte in jedem Land. Aber aus diesen Unterschieden heraus narzisstische Bedürfnisse nach Abgrenzung zu befriedigen, scheint einfach nicht mehr zeitgemäß zu sein. Weshalb genannte Fragen irritieren. Das wäre genauso einfach, wie bei der nicht ganz unberechtigten Kritik stehen zu bleiben, dass in Deutschland Antirassismus mit Zeigefinger auf die USA ein gemütliches Unterfangen ist.

Möglicherweise hat die Generation, die jetzt auf die Straße geht, den vorangegangenen Generationen genau das voraus: alle Unterschiede zu kennen und trotzdem gemeinsam für ein geteiltes, universelles Anliegen zu kämpfen; für eine Idee nämlich, die bisher nur als unerfülltes Versprechen jener vorigen Generationen existiert. Die Idee, dass alle Menschen gleich sind, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht; das Versprechen, das jetzt endlich eingelöst werden soll. Vielleicht deshalb jetzt.

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