Berichterstattung über Ostdeutschland: Euer exotisches Bild vom Osten
Ausländerfeindlich und enttäuscht – so zeichnen viele Medien Ostdeutsche. Eine Doku über dieses Problem schafft es aber nicht ins ARD-Hauptprogramm.
I ch bin ein Wochenkind. Jeder Ostdeutsche weiß, was das ist. Ist Westdeutschland kann damit keiner etwas anfangen. Seit ich von Leipzig nach Hamburg gezogen bin, muss ich mich immer erklären: Wochenkinder waren im Alter von sechs Wochen bis drei Jahren nur am Wochenende zu Hause, in der Woche in der Krippe, auch über Nacht. Also habe ich das Thema in westdeutschen Redaktionen vorgeschlagen – meist erfolglos.
Das geht mir auch mit anderen ostdeutschen Themen so – aus München, Köln oder Frankfurt schlägt mir Ablehnung entgegen. Was schade ist, denn so wird das Verständnis füreinander kaum wachsen. Anke Fiedler von der Uni Greifswald meint dazu: „Der Ostdeutsche kennt die westdeutsche Perspektive. Umgekehrt ist es nicht so.“
Dabei wünschen sich Politiker in Reden regelmäßig genau das Gegenteil. So stellte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Interview mit den ARD-„Tagesthemen“ zur Deutschen Einheit 2023 fest: „Viele Ostdeutsche haben das Gefühl, dass sie nicht gehört und nicht gesehen werden, dass ihre Geschichten nicht Teil einer gemeinsamen deutschen Geschichte geworden sind und dass es im Westen auch nicht wirklich Interesse an ihren Biografien gegeben hat.“
Das könnte auch daran liegen, dass alle Leitmedien im Westen sitzen und dort fast nur Westdeutsche das Sagen haben. Seit über 30 Jahren berichte ich aus und über Ostdeutschland für verschiedene Medien. Fast immer hatte ich westdeutsche Chefs, selbst wenn die Medien ostdeutsch sind. Bei der Dresdner Morgenpost kamen sie aus Passau, bei der Bild Chemnitz aus dem Ruhrpott. Selbst beim MDR wurde es nicht besser: Der Intendant war in Lindau geboren, mein Chefredakteur in Köln. Die spätere Chefredakteurin kam aus Karlsruhe, der Informationsdirektor aus Münster.
Dieser Artikel zeigt Bilder aus der Dokumentation „Der Osten in den Medien“, die mit einer KI erstellt wurden. Dafür wurde der KI aufgetragen, Ostdeutsche darzustellen – anhand von Adjektiven, die
besonders häufig in Artikeln im Jahr 2020 genutzt wurden, um ostdeutsche Menschen zu beschreiben. Nämlich: bodenständig, widerstandsfähig. pragmatisch, stolz, fleißig, anpassungsfähig, enttäuscht, nostalgisch, benachteiligt, resilientMan kann anmerken, dass Herkunft heute keine Rolle mehr spielen sollte. Aber haben Sie schon mal versucht, als Sachse ein Volontariat in München anzutreten? Es ist in Ordnung, wenn Westdeutsche beim MDR, dem einzigen Ostsender, die Hälfte der Volo-Plätze und der Chefposten inne haben. Es wäre dann aber fair, wenn auch beim WDR Ostdeutsche in gehobenen Positionen tätig wären.
Meine gefühlte Realität gibt es auch in Zahlen – eine Studie der Uni Leipzig mit dem Titel „Der lange Weg nach oben“ hielt 2022 fest wie schwach Ostdeutsche in Elitepositionen vertreten sind: Kein Ostdeutscher sitzt in der Leitung eines großen deutschen Medienkonzerns. Bei den auflagenstärksten Printmedien gibt es bundesweit zwei ostdeutsche Chefredakteure. Selbst in den Chefredaktionen der großen ostdeutschen Regionalzeitungen sind nur 43 Prozent der Chefredakteure Ostdeutsche. Nur 2 von 10 Menschen in den Geschäftsleitungen sind ostdeutsch.
Klingt nach Auslandsberichterstattung
Mich interessieren vor allem die Auswirkungen auf das Programm. Natürlich kann ein Stuttgarter gute Beiträge beim ZDF in Mainz über Schleswig-Holstein abliefern. Aber einem Hannoveraner bei der ARD in Hamburg dürfte es schwerer fallen, die Lebenswirklichkeit in Sachsen-Anhalt abzubilden. Das liegt daran, dass sich die Lebenswirklichkeiten zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern leider noch immer gravierend unterscheiden. Das Aufwachsen in einer Diktatur hat sozial geprägt. Und diese Erfahrungen werden auch an die nachfolgende Generation weitergegeben.
Ich selbst bin vor sechs Jahren nach Hamburg gezogen. Ich verstehe die Stadt und ihre Bewohner heute besser. Ich würde mich aber nicht bei einer Lokalzeitung bewerben. Dazu kenne ich mich zu wenig aus. Bedeutet: Ja, die aus dem Westen Zugezogenen kennen den Osten besser als ihre daheimgebliebenen Landsleute. Aber eben nur so gut wie ein westdeutscher Korrespondent für die westdeutsche Heimredaktion berichtet. Und so lesen sich dann auch die Berichte.
Der Medienwissenschaftler Lutz Mükke wirft Medien vor, was sie über den Osten schreiben, lese sich wie Auslandsberichtserstattung. Für die Otto-Brenner-Stiftung veröffentlichte er 2021 den Aufsatz „30 Jahre Deutsche Einheit“. Darin heißt es: „Nach der Wiedervereinigung publizierten die westdeutschen Meinungs- und Debattenführer weiter exklusiv für die gebildeten Mittel- und Oberschichtenmilieus Westdeutschlands und trugen dadurch kräftig zur Verstetigung von „Ost“ und „West“ bei. Ostdeutschland und die Ostdeutschen zu repräsentieren und zu integrieren, war über Jahrzehnte nicht ernsthaft ihr Anliegen.“
Gleichzeitig hat es bisher kein ostdeutsches Medium geschafft, sich als überregionales Leitmedium zu etablieren und den Ostdeutschen eine Stimme zu geben. Die Berliner Zeitung versucht dies seit fünf Jahren. Und bekommt von westdeutschen Leitmedien eins auf den Deckel: „Ein dystopischer Gemischtwarenladen“, urteilt der Spiegel, der noch einmal die 35 Jahre alten „Stasi-Verstrickungen“ des Herausgebers aufwärmt. Um dann doch einzuräumen, dass eine „unabhängige Analyse“ der Akte „milde“ ausfiel. Für die FAZ ist die Berliner Zeitung gleich die neue Prawda, also das Parteiblatt des Kreml.
Wessis bekommen nichts davon mit
Doch warum wären ostdeutsche Medien, die gesamtdeutsch wahrgenommen würden, wichtig? Drei Beispiele:
Am Holocaust-Gedenktag 2023 wird im Bundestag an die Opfer erinnert. Erstmals an queere Menschen, die von den Nazis ermordet wurden. Dabei wird daran erinnert, dass der sogenannte Homosexuellenparagraf erst 1994 abgeschafft wurde. Selbstverständlich bezieht man sich dabei auf die Geschichte der Bundesrepublik. Auch in der Berichterstattung zum Beispiel der „Tagesschau“. Als habe die DDR, wo der Paragraf bereits 1968 gestrichen wurde, nicht existiert.
Die einzige Partei, die ihre ostdeutschen Wurzeln im Namen trägt sind Bündnis 90/Die Grünen. Nur sagt das im westdeutschen Mediendiskurs kaum einer. Dort heißt es stets die Grünen. Wer weiß noch, wofür Bündnis 90 steht?
2008 schafft es zum ersten Mal ein Ostdeutscher an die Spitze einer Gewerkschaft. Von Anfang an weht ihm ein scharfer Medienwind entgegen. Die Kommentare beziehen sich vor allem auf die Aussprache:
• „Claus Weselsky, 62, […] kein begnadeter Redner, aber keiner redet so wie er. So kompromisslos. So respektlos. So sächsisch.“ (RND, 1. 9. 21)
• „Der GdL-Chef, wir alle kennen ihn inzwischen, das ist der Mann mit dem Schnauzbart und der interessanten Aussprache …“ (DLF, 7. 12. 23, „Das war der Tag“)
• „Der Triumph des sächselnden Rumpelstilzchens“ (Spiegel, 37/2021)
Doku nur im Dritten
Nun hat sich der MDR des Themas „Der Osten in den Medien“ angenommen. Seine sehenswerte 90-minütige Doku heißt „Es ist kompliziert“. Ein Fazit: „Überfremdet“, „PEGIDA“, „völkisch“, „Lügenpresse“ oder „ausländerfeindlich“ kommen in der Berichterstattung über den Osten deutlich häufiger vor als im gesamtdeutschen Schnitt. Die Themenkomplexe „Rechtsextremismus“, „Machtlosigkeit“, „Rückgang und Mangel“ sowie „Protest“ überwiegen.
Leider fehlt der Doku, was sie moniert: „Ich hätte mir gewünscht, dass etwas mehr zwischen den verschiedenen Medien und Journalisten differenziert wird“, sagt Medienwissenschaftlerin Mandy Tröger der Uni Tübingen. Und Heiko Hilker vom Dresdner Institut für Medien stellt eine weitere wichtige Frage: „Warum läuft diese Doku nicht im Ersten? Nicht einmal um 22.45 Uhr?“
Der MDR antwortet mir: Die Doku sei für die Ausstrahlung „im 3. Programm geplant“, habe einen Marktanteil von 8,5 Prozent erreicht, was „ein Erfolg“ sei wie auch die 90.000 Abrufe in der Mediathek. Mit der ARD-Programmplanung wäre man „im Austausch“, eine Ausstrahlung im Ersten „erfreulich“. Das bedeutet übersetzt: Die Doku sollte von Anfang an nur im MDR laufen, in der ARD wird sie analog vermutlich nicht zu sehen sein.
Das ist Teil des Problems: Ossis schauen sich im MDR an, was sie schon wissen. Und Wessis bekommen nichts davon mit. Ich habe die Doku mit einer westdeutschen Freundin gesehen: Sie fühlte sich ertappt und fand sie horizonterweiternd. Aber wie in den Chefetagen fast aller Leitmedien dominieren auch in der ARD Westdeutsche: Die Freiburgerin Christine Strobl ist Programmdirektorin, der Westfale Oliver Köhr ihr Stellvertreter und der Münchner Kevin Amour ist Programmplaner. Sie wählten 2024 andere MDR-Dokus für das Erste aus: „Wir waren in der AfD – Aussteiger berichten“, „Trotz und Treue – Das Phänomen Sahra Wagenknecht“ oder „Die große Angst – Zukunft in Ostdeutschland“. Da sind sie: die Stereotype.
Alexander Teske berichtet für verschiedene Medien seit 30 Jahren aus und über Ostdeutschland. Zuletzt war er für den MDR sechs Jahre bei der „Tagesschau“ in Hamburg.
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