Demonstrationen: Deutschland, deine Protestkultur
Konfrontieren Bürger*innen ihre Vertreter*innen, gilt das schon als „Verrohung“. Dabei ist Abschottung der politischen Klasse undemokratisch.
Einmal tief Luft holen. Was ist in der Nacht vom 4. Januar in Schlüttsiel passiert? Ein Pulk von rund 300 Menschen ist zu einer Fähre gegangen und hat Lärm gemacht. Laut Angaben der Polizei wollten etwa 25 Personen auf die Fähre gelangen, auf der sich Wirtschaftsminister Robert Habeck befand. So weit die Fakten.
Ob es zu Gewalt gekommen wäre, wenn die Demonstrierenden auf das Schiff gekommen wären, ist reine Vermutung, ja Unterstellung. Dass die Fähre vorsichtshalber wieder abgelegt hat – verständlich. Dass die deutsche Öffentlichkeit über diesen Fast-Vorfall in Schnappatmung gerät – bedenklich.
Die Aufregung über die „Gewalt“, die gar nicht passiert ist und nur vermutlich passiert wäre, sagt viel über Deutschlands erbärmliche Protestkultur und ein defizitäres Verständnis von Demokratie aus. In anderen Ländern gehört es zum Standardrepertoire, Politiker*innen aufzusuchen, zu stören und gegebenenfalls deren Fortbewegung zu blockieren. Warum auch nicht?
Die meisten deutschen Regierungspolitiker*innen lassen sich diskret von ihren Chauffeur*innen in die Tiefgaragen des Bundestags bringen und fahren von da mit dem Fahrstuhl in den Plenarsaal. Will man im Regierungsviertel von einem Gebäude ins andere, gibt es praktischerweise unterirdische Gänge. Bloß kein Kontakt nach draußen! Ein feudaler König hätte es sich nicht besser erträumen können.
Abgeordnete und Minister*innen bekommen normale Menschen quasi nie zu Gesicht. Sie müssen sich buchstäblich nie mit der Lebensrealität der Bevölkerung konfrontieren. Das ist nicht nur symbolisch ein Problem: Leider zeugt ihre Politik oftmals von eben dieser Entfremdung. Natürlich sucht man da als Bürger*in die Konfrontation. Wer das allein schon als „Verrohung“ oder „antidemokratisch“ bezeichnet, sollte sich mal mit der Französischen Revolution beschäftigen, der Wiege der europäischen Demokratie. Der deutsche Hang zu Anstand und Gehorsam steht diesen Werten allzu oft entgegen.
Auf einem anderen Blatt steht, dass die Bauernproteste von Rechtsextremen unterwandert werden und dass eine sehr kritische, inhaltliche Auseinandersetzung damit geboten ist. Es gibt unter den Demonstrant*innen rechtsextreme Chatgruppen, die den Sturz der Regierung fordern.
Fairerweise muss man dazu sagen, dass die politische Zugehörigkeit der 25 Fähren-Blockierer*innen noch nicht sicher festgestellt wurde. Wenn sie sich als rechtsextrem erweisen, dann ist es aber egal, ob sie eine Fähre blockieren oder nur danebenstehen: Dann ist ihre Ideologie das zu bekämpfende Problem.
Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder sagte über die jüngsten Vorfälle, er habe Verständnis für die Anliegen der Bauern, weise aber deren radikale Protestform zurück. Im Gegenteil, Herr Söder! Die Form als solche ist – bisher zumindest – völlig harmlos und Teil eines Standardrepertoires von zivilen Protesten. Die inhaltliche Ausrichtung hingegen sollte man streng unter die Lupe nehmen.
Aber auch im Herausstellen der rechtsextremen Strömungen der „Bauernproteste“ wären zwei Dinge angebracht: Erstens, die verschiedenen Akteur*innen der Landwirtschaft auseinanderzuhalten und zwischen den unterschiedlichen Forderungen zu differenzieren. Nicht alle Landwirt*innen sind Teil der subventionierten Großindustrie, die eine mächtige Lobby auf Bundes- und EU-Ebene hat. Nicht alle protestierenden Landwirt*innen sind rechts und antiökologisch.
Zweitens reicht es nicht, sich über die rechte Vereinnahmung zu empören, sondern es muss auch gegengesteuert werden. Dazu gehört in erster Linie, die realen Probleme der Bäuer*innen ernst zu nehmen. Und da geht es nicht nur um die Kfz-Steuer. Viele Landwirt*innen leiden unter massivem Höfesterben und Landgrabbing. In Frankreich und in der Schweiz gehört die Landwirtschaft zu einer Berufssparte mit besonders hoher Suizidrate – in Deutschland werden diese Zahlen zwar nicht erfasst, doch ist die Problemlage sehr ähnlich. Auch über diese Form der Gewalt muss gesprochen werden.
Die frühere Aktivistin und Linkenpolitikerin Carola Rackete macht es deshalb richtig: In einem Video benennt sie die Probleme von Bäuer*innen, nimmt sie ernst, kritisiert die tatsächlichen Fehler der Bundesregierung, ohne zu pauschalisieren – und ruft gleichzeitig zu einer klaren Distanzierung von den rechten und rechtsextremen Kräften innerhalb der Proteste auf. So viel Komplexität muss sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch