Rechtsruck in Deutschland: AfD-Wählende sind keine Schafherde

Mit 18 Prozent erreichte die AfD ein Rekord-Umfragehoch in Deutschland. Doch statt sich zu distanzieren, nähern sich die anderen Parteien thematisch an.

Schafherde mit kleinen Lämmern

Schafe einer Schafherde und ihre Lämmer am Stadtrand von Köln Foto: Henning Kaiser/dpa

Es geht wieder los. Deshalb schreibe ich jetzt etwas Ähnliches wie vor vier Wochen. Es ist wieder zu lesen, dass man schockiert ist von 18 Prozent. Dass Po­pu­lis­t*in­nen eben von Krisen profitieren, weil sie falsche Versprechungen machen, weil sie Sündenböcke finden, ohne Rücksicht auf lebensbedrohliche Verluste, weil sie vermeintlich einfache Antworten hinhalten in ihren ausgestreckten Händen auf irgendwelchen Kleinstadtmarktplätzen, um die sich seit Jahren niemand schert.

Es sind jetzt wieder die anderen Schuld, die „schwache und beständig streitende Regierung“, so Friedrich Merz. Seine Partei hingegen habe mit der AfD „nichts zu tun“. Als hätte er nie von „kleinen Paschas“ gesprochen, als hätte die CDU keine Vornamen abfragen wollen, als hätte der Bautzener Landrat keinem AfD-Antrag zugestimmt, als setze man Rechtsextremismus nicht regelmäßig mit Linksextremismus gleich, als forderte man nicht mehr Flaggen und Nationalhymnen, als hätte man nichts am Hut mit einem Altkanzler, der weder nach Mölln noch nach Solingen fuhr.

„Wir haben mit diesen Leuten nichts zu tun“, ist leicht behauptet. Aber dieses Land hat mit diesen Leuten alles zu tun. Das deutsche Naziproblem, die anhaltende Rechtsweitoffenheit, wird hier hausgemacht, nicht nur von Konservativen. Die Große Koalition hat ein Heimatministerium gegründet, die Grünen haben die Offenlegung der NSU-Akten blockiert, ein FDPler hat sich in Thüringen mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Und für die wachsende soziale Ungleichheit sind alle Parteien verantwortlich.

Es macht die Sache nicht besser, dass rund zwei Drittel der 18 Prozent sagen, sie würden nicht aus Überzeugung AfD wählen, sondern aus Enttäuschung über die anderen Parteien. Ich bin auch oft enttäuscht.

Zärtliche Zugewandtheit für die 18 Prozent

Aber Rechtsradikale wählt nur, wer ihre Agenda unterstützt, wer sie gefährlich unterschätzt oder glaubt, sich gar nicht erst informieren zu müssen. Das könnten Po­li­ti­ke­r*in­nen häufiger in Kameras sagen, auch wenn es nur verbale Grenzen zieht.

Stattdessen kehrt die fast zärtliche Zugewandtheit für die 18 Prozent zurück, über die man spricht wie über eine Schafherde: Was treibt sie in die Arme der Rechten? Wie erreichen wir sie nur, die besorgten Bürger*innen?

Ich frage mich jedes Mal, was mit den anderen Besorgten ist. Die Angst haben, weil sie wissen, wie sich kleine Dammbrüche zu einem großen verbinden. Die sich nicht trauen, an einen See in Brandenburg zu fahren. Die Hakenkreuze in ihren Hausfluren finden. Die keine Rente bekommen, obwohl dieses Land ihnen Wohlstand verdankt. Die verhaftet werden, weil sie auf die Klimakrise aufmerksam machen.

Wer Schuld trägt an deren Enttäuschungen und wie wir ihren Einsatz endlich anerkennen, darum geht es viel zu selten. Dabei wäre das demokratiestärkend – und das kann dieses Land dringend brauchen.

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Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Ihr neuer Roman "Das Verschwinden der Welt" erscheint am 29. August bei Piper.

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