Streiks in Deutschland und Frankreich: Den Kapitalismus umkippen
Streiks machen Schlagzeilen in Deutschland wie in Frankreich. Doch Tradition, Funktion und die Ziele könnten kaum unterschiedlicher sein.
S eit Anfang März sind die Straßen in mehreren Städten Frankreichs mit Müll übersät, Berge von Müllsäcken türmen sich mit ihrem Gestank auf, nach Angaben der Pariser Stadtverwaltung liegen mittlerweile fast 10.000 Tonnen nicht abgeholter Müll in der französischen Hauptstadt. Der Streik bei der Müllabfuhr ist Teil der aktuellen Proteste gegen die Rentenreform. In Deutschland höre ich häufig, dass Frankreich bei sozialen Protesten einen Vorsprung hätte und dass in meiner alten Heimat der Geist der Revolution noch herrschen würde.
Nun möchte ich mit diesem Mythos aufräumen. Um zu verstehen, warum Streiks und Demonstrationen in Frankreich nicht wirklich einem „revolutionären Geist“ folgen, müssen wir uns anschauen, wie Gewerkschaften im Unterschied zu Deutschland funktionieren und wie außerdem das präsidentiell-parlamentarische Regierungssystem in Frankreich mitunter einer „präsidentiellen Monarchie“ ähnelt.
geb. 1977 in Frankreich, Autor und Doktorand an der UdK Berlin. Zuletzt erschien: „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund.“
Zweifellos sind sowohl in Deutschland als in Frankreich Gewerkschaften legitime Organe zur Vertretung der Interessen von Arbeitnehmer:innen. Hinsichtlich der Organisationsformen wie auch der Ziele und Vorgehensweisen unterscheidet sich die Gewerkschaftsarbeit in den zwei Ländern. Der Politologe René Lasserre beschreibt in einer Essaysammlung die Entstehung und Methoden der Gewerkschaften auf beiden Seiten des Rheins. Der Kontrast sei so groß, dass man in vielerlei Hinsicht sagen könnte, dass es sich eigentlich um zwei gegensätzliche Modelle handelt.
Seit ihren Ursprüngen am Ende des 19. Jahrhunderts steht die französische Gewerkschaftsbewegung unter dem Zeichen des Pluralismus: zum einen der Organisationsformen, darunter Berufssyndikalismus und Industriesyndikalismus; zum anderen der Ideologien, darunter Anarchist:innen, Marxist:innen, Sozialist:innen und Christ:innen. Die Folge der Zerstrittenheit unter den Gruppen waren zahlenmäßig schwache Organisationen.
Wenig kompromissbereit
Laut einer vom französischen Arbeitsministerium veröffentlichten Studie lag im Jahr 2019 der gewerkschaftliche Organisationsgrad insgesamt – im öffentlichen und privaten Sektor zusammen – bei 10,3 Prozent. In gewisser Weise sind französische Gewerkschaften eine Minderheitsbewegung.
Dazu kommt nun der vielleicht wichtigste Punkt: Der Syndikalismus in Frankreich ist stark geprägt von einer Tradition des Protests gegen die soziale Ordnung. Im Grunde sind französische Gewerkschaften nicht so sehr ein Mittel zur Verteidigung der Interessen der Arbeiter:innen, sondern sie verstehen sich vielmehr als Instrument zur Umgestaltung des kapitalistischen Systems.
Obwohl sich heute die Gewerkschaften in der Grande Nation nicht mehr auf den revolutionären Syndikalismus der direkten Aktion berufen würden, sondern sich in vielfältiger Form am wirtschaftlichen und sozialen Leben beteiligen, bleiben sie dem sozialen Dialog gegenüber misstrauisch. Sie sind weitgehend auf Konfrontation eingestellt, anstatt auf Engagement oder Teilhabe, die ihre Autonomie einschränken könnte.
Insbesondere lehnen sie jede Form der Zusammenarbeit mit den Arbeitgeber:innen oder dem Staat ab, auch wenn diese Zusammenarbeit konstruktiv sein könnte. Das zeigt sich auch darin, dass in Frankreich die meisten Beamt:innen streiken dürfen. Im Gegensatz dazu haben sich die deutschen Gewerkschaften im Zuge der Sozialdemokratie von Anfang an als eine relativ homogene Massenbewegung entwickelt.
Fatale Rivalitäten
Nach der Aufhebung des Bismarck’schen Verbots im Jahr 1890 und infolge der Industrialisierung Deutschlands bevorzugte man die moderne Form der Industriegewerkschaft. Ab 1914 wurden mächtige und effiziente Organisationen gegründet. Und nun kommt der vielleicht wichtigste Punkt: Am Ende der Weimarer Republik und während der großen Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre führten Meinungsverschiedenheiten zwischen Sozialdemokrat:innen und Kommunist:innen sowie die Rivalitäten mit den christlichen Gewerkschaften zu einer Schwächung der Gewerkschaftsbewegung und schließlich zu ihrer Kapitulation vor den Nazis.
Wie so oft zog Deutschland dann die Lehre aus der Geschichte: Nie wieder schwache Gewerkschaften, die vor dem Staat kapitulieren. So wurde in der Nachkriegszeit die Gewerkschaftsbewegung auf der Grundlage der parteipolitischen Neutralität wiederaufgebaut. Es entstand eine quasi einheitliche Gewerkschaftsbewegung, in der ein großer Mehrheitsverband, der DGB, heute knapp 6 Millionen Mitglieder vereint. Die Tendenz ist sinkend, trotzdem liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad insgesamt in Deutschland entscheidend höher als in Frankreich.
Während deutsche Gewerkschaften nun versuchen, die unmittelbare Lage der Arbeiter:innen durch Tarifverhandlungen im Rahmen der bestehenden Gesellschaft zu verbessern, lehnen die französischen Gewerkschaften Kompromisse im Namen einer utopischen Zukunft ab. Wer will, mag hier den revolutionären Geist Frankreichs spüren, in der Sache ist das aber eher kontraproduktiv.
Die Schwäche der Gewerkschaften in Frankreich, ihr Widerwille, Kompromisse einzugehen und damit einhergehende Verpflichtungen anzunehmen, hindert sie daran, eine reale soziale Aufgabe zu übernehmen. Dem Dialog abgeneigt, stellen sie den Konflikt in den Vordergrund: Mit Demonstrationen und Generalstreiks wollen sie den Kapitalismus zum Kippen bringen. Die deutschen Gewerkschaften sind da realistischer. So ist es kein Zufall, dass die wirtschaftliche und industrielle Situation Frankreichs heute so miserabel ausschaut.
Streik als letztes Mittel
Während die deutsche Wirtschaft ihr Wachstumsmodell auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und den Export stützt, setzt die Wirtschaftspolitik in Frankreich auf den Konsum und die Kaufkraft der Haushalte. Der Politikwissenschaftler Felix Syrovatka hält das für den Grund, warum die Deutschen die Rentenreformen besser akzeptiert hätten. Weil für eine Wirtschaft, die auf der Wettbewerbsfähigkeit von Exporten beruht, die Senkung der Lohnkosten wichtiger sei als der Erhalt der Kaufkraft der Rentner:innen.
Aber könnte der starke Rückgang der Industrie in den letzten zwanzig Jahren in Frankreich auch auf die Vorgehensweise der Gewerkschaften zurückzuführen sein? Regelmäßig wird das Land ja für Tage, Wochen oder Monate buchstäblich blockiert. Wir erinnern uns an die Gelbwesten-Bewegung: Drei Jahre später ist es wieder so weit. Wieder wird das öffentliche Leben in Frankreich durch landesweite Proteste eingeschränkt – diesmal gegen die Rentenreform.
Stilllegung der wichtigsten Raffinerien, Streik der Müllabfuhr, Ausfälle im Zug- und Flugverkehr, Streik an Schulen, Demonstrationen mit Ausschreitungen und Zusammenstößen mit der Polizei, Bushaltestellen verwüstet und Mülltonnen angezündet – womit das erwähnte Abfallproblem teilweise gelöst ist. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die französischen Gewerkschaftsführungen in Wirklichkeit wenig Gestaltungsfreiraum haben.
In Deutschland ist ein Streik nur das letzte Mittel – in Frankreich ist er gewissermaßen eine Vorstufe zu jeglichen Verhandlungen. Gemäß René Lasserre ist die Abneigung gegen den sozialen Dialog in Frankreich nicht nur auf die Gewerkschaften zurückzuführen, sondern sie wird auch von einem nicht unerheblichen Teil der Arbeitgeber:innen geteilt, insbesondere in den kleinen und mittleren Unternehmen. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Denn das erfordert das ständige Eingreifen des Staates, der in der Tat der eigentliche Regulierer und Schiedsrichter der gesellschaftlichen Verhältnisse ist.
Am Parlament vorbei
Anders als in Deutschland, wo sich der Staat auf die Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen beschränkt, greift der Staat in Frankreich in vielfältiger Weise in die vertraglichen Beziehungen ein und verabschiedet Gesetze zu allen wesentlichen Bereichen des Arbeitslebens. Ironischerweise führt der sogenannte revolutionäre Geist in Frankreich also dazu, dass Gewerkschaften und Unternehmen auf den Staat angewiesen sind, um den sozialen Fortschritt zu sichern.
Schließlich kommt ein letzter, wichtiger Punkt dazu: Die französische Regierung kann Gesetzestexte am Parlament vorbei verabschieden. Wenn sie nicht über eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt, kann die Regierung den Absatz 49.3 der Verfassung herausholen, ihren Joker, um die direkte Verabschiedung des Gesetzesvorhabens ohne parlamentarisch Abstimmung durchzubringen. Genau das tut Emmanuel Macron, um die Rentenreform durchzusetzen.
Wenn der Regierungschef dieses Verfahren einleitet, haben die Abgeordneten nur noch die Möglichkeit, innerhalb von 24 Stunden ein Misstrauensvotum zu beantragen. Ein solcher Vorstoß des rechtsnationalen Rassemblement National (RN) scheiterte in der Nationalversammlung knapp. Elf Mal schon kam im Kabinett von Élisabeth Borne der Artikel 49.3 zur Anwendung, in nicht einmal einem Jahr – und hundert Mal seit Beginn der Fünften Republik.
Einige sagen sarkastisch, dass in Marseille die Mülltonnen auch ohne Streik überlaufen. Die sozialen Proteste in Frankreich sind nicht nur eine revolutionäre Form der demokratischen Teilhabe. Sie sind auch und vor allem eine unglückliche und erzwungene Form aufgrund der gewerkschaftlichen Tradition des Protests gegen die soziale Ordnung auf der einen Seite und des Regierungssystems auf der anderen Seite, in dem der Präsident Gesetze am Parlament vorbei durchsetzen kann, womit er allerdings stets den Zorn der Bevölkerung riskiert. Schon rufen die Gewerkschaften für den 6. April erneut zum großen Streiktag auf.
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