Ungleichbehandlung von Religionen: Leise rieseln die Privilegien
Deutschland ist tief von christlicher Dominanz durchzogen. Viele nicht- oder andersgläubige Menschen werden so unsichtbar gemacht.
W egen Corona wurden Muslime aufgefordert, den ganzen Monat Ramadan zu „verschieben“, buddistische Vesakh-Feste wurden abgesagt und waren überschattet von antiasiatischem Rassismus, zu Chanukka gab es keine Lockerungen der Maßnahmen und was Divali überhaupt ist, müssen die meisten sowieso erst googeln. Und nun, während Covid mit Rekordzahlen das Land zersetzt, macht man wegen Weihnachten „Pause“ im Lockdown.
Hinweise auf diese Ungleichbehandlung der Religionen werden oft damit zurückgewiesen, Weihnachten sei weniger ein religiöses, sondern ein Familienfest, bei dem alle mitmachen. Das ist aber nur christliche Normativität: Die Annahme, „alle“ würden christliche Feiertage feiern, weil diese die Norm sind, sowie Ignoranz darüber, dass andere Feiertage genauso Familienfeste sein können. Außerdem gibt es einen Riesenunterschied zwischen „alle feiern Weihnachten mit“ und „allen wird es aufgezwungen“.
Mit „Christen“ meine ich hier nicht nur sehr gläubige Leute, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, sondern alle Christen. Die eigene religiöse Identität nicht bewusst wahrnehmen zu müssen, weil man nicht diskriminiert wird, ist auch Teil christlicher Normativität. Auch Atheisten und Menschen anderer Religionen, die als christlich gesehen werden, weil sie christliche Namen haben oder „so“ aussehen, genießen einen Teil christlicher Privilegien – ob sie wollen oder nicht.
Die vermeintliche Selbstverständlichkeit des Christseins hat manche Köpfe so tief durchdrungen, dass ein Beitrag von Euronews sogar die Gedenkstätte in Srebrenica als „Meer aus weißen Kreuzen“ beschrieb. Zur Erinnerung: Während des Genozids gegen Bosniaken wurden 1995 allein in der Kleinstadt Srebrenica über 8.300 Muslime und Muslimas von christlichen, serbischen Soldaten ermordet.
Melina Borčak
ist freie Journalistin und Filmemacherin, u. a. für CNN, RBB, DW. Sie kommt aus Sarajevo, wo sie vor 10 Jahren anfing, journalistisch zu arbeiten. Seit fünf Jahren lebt sie in Deutschland.
„Meer aus weißen Kreuzen“
Tausende muslimische Gräber, die klar auf dem Video zu sehen sind, als „Meer aus weißen Kreuzen“ zu bezeichnen, zeigt, dass manche Menschen lieber ihren eigenen Augen widersprechen als christlicher Normativität. Und weder die Redaktion noch die meisten Zuschauer merkten, wie falsch und respektlos es ist, die Gräber ermordeter Muslime so zu bezeichnen. Die einzige Kritik kam, wie immer, von Bosniaken selbst – und wurde ignoriert.
Beim TV-Sender ProSieben steht neben der Nummer der Covid-Verstorbenen ein Kreuz. Entweder fiel der Redaktion nicht ein, dass nicht alle Verstorbenen Christen sind, oder die „anderen“ sollen sich auch nach dem Tod mitgemeint fühlen.
Als ich vor fünf Jahren nach Deutschland zog, war ich geschockt vom starren, mühsamen Umgang vieler Deutscher mit anderen Religionen. Jahrelang schicken mir Leute, die wissen, dass ich Muslima bin, Wünsche zu Weihnachten und Ostern. Zu Bajram nichts. Wenn ich christliche Kollegen zu Weihnachten ignorieren und dann „Ramazan šerif mubarek olsun!“ schreiben würde, würde ich bestenfalls als Freak gelten und schlimmstenfalls als Terroristin.
Ich habe Freunde aus aller Welt, und alle kriegen es hin, anderen zu den richtigen Feiertagen zu gratulieren, sogar mitzufeiern. Doch viele deutsche Christen wissen auch beim besten Willen und bei guten Absichten nicht, wie sie überhaupt mit Unterschieden umgehen sollen.
Feiertagsdebatte, ein Luxus
Ich war auch überrascht, dass man als ArbeitnehmerIn hier nur an christlichen Feiertagen frei hat. Die Welt geht nicht unter, wenn Fatima einen Tag Pause von der deutschen Leistungsmaschine hat. Vor allem nicht, wenn dieser Tag nach bester deutscher Tradition schon Monate vorher eingeplant werden kann. Jeden Tag melden sich zahlreiche Arbeitende krank. Wenn das spontan funktioniert, aber bei planbaren Feiertagen Probleme herbeifantasiert werden, habe ich das Gefühl, unsere Feiertage sind Deutschland weniger wert als Magen-Darm-Probleme.
Aber als Muslima, die vor Genozid flüchten musste und mit viel größeren Angriffen kämpft, ist die Feiertagsdebatte für mich Luxus. Wenn Deutschland dermaßen einfache Basics nicht hinkriegt, fühle ich keine Diskriminierung, sondern Fremdscham. Und während Christen so sehr an ihre gesellschaftliche Machtposition gewöhnt sind, dass sogar notwendige Coronamaßnahmen von der größten Zeitung des Landes als „Psycho-Krieg gegen Weihnachtseinkäufe“ empfunden werden, werden die jährlich über 1.000 Angriffe gegen Muslime größtenteils nicht mal in Lokalzeitungen vorkommen.
Normativität zieht immer Privilegien mit sich und scheint den „Normalen“ unsichtbar. Wer die Probe machen will, beantworte sich folgende Fragen: Bist du frei vom Druck, Feiertage anderer Religionen zu feiern, die deinem Glauben widersprechen? Findest du in Medien realistische Darstellungen deiner Religion und ihrer Mitglieder?
Kannst du ein Arsch sein, ohne dass deine Religion als Grund herhält? Kannst du toll sein, ohne als Ausnahme zu gelten? Kannst du ein neues Glaubenshaus bauen, ohne dass die AfD den Weltuntergang herbeilügt? Hast du, durch zahlreiche Studien bewiesen, keine kleineren Chancen auf Job oder Wohnung, weil deine Religion „nicht passt“?
Es gibt noch Dutzende solcher Fragen. Die wichtigste: Kannst du leugnen, Privilegien zu haben, während die Konsequenzen deiner Ignoranz andere ausbaden? Niemand leugnet, dass Christen in China, Pakistan, Indien diskriminiert werden. Das heißt aber nicht, dass man nicht darüber sprechen darf, dass Deutschland seit 15 Jahren von einer explizit christlichen Partei regiert wird, Kirchen genießen Sonderrechte, in zahlreichen Gerichten und Schulen hängen Kruzifixe, und wenn der Lehrer mit Kreuzkette ankommt, ist auch alles normal. Aber wenn eine Frau mit Kopftuch das Klassenzimmer betritt, ist religiöse Neutralität plötzlich bedroht. Außer natürlich, sie ist zum Putzen da. Statt „Frohe Weihnachten“ ist mein Wunsch: Hinterfragt die Norm!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?