Antisemitismus-Debatte: Verfehlte Empörung
Bundeskanzler Olaf Scholz betont die deutsche Empfindlichkeit bei Antisemitismus. Dabei verkennt er, wer davon wirklich betroffen ist.
P einlich war's anzusehen, wie Bundeskanzler Olaf Scholz diese Woche neben Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas stand, als der bei einer Pressekonferenz ernsthaft behauptete, Israel habe bis heute in den palästinensischen Gebieten „50 Holocausts“ begangen. Scholz guckte etwas irritiert, schüttelte dann aber doch noch Abbas' Hand. Ja, klar, die Juden von heute sind die Nationalsozialisten von damals. Kennt man schon, spätestens seit der diesjährigen documenta, wo das später abgehängte Agitprop der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi Juden als Blutsauger mit SS-Runen am Hut zeigte.
Hinterher hat er sich ja quasi für sein Schweigen entschuldigt, unser Kanzler. Seine Haltung nachgereicht. Dafür muss man in Deutschland fast dankbar sein. „Gerade für uns Deutsche ist jegliche Relativierung des Holocaust unerträglich und inakzeptabel“, verlautete Scholz. Moment mal, wenn Antisemitismus gerade für die Deutschen so unerträglich ist, dann frage ich mich, ob ich mir die Diskussionen der letzten Wochen über die Documenta eigentlich eingebildet habe? Aber dazu gleich mehr. Holen wir uns lieber nochmal in Erinnerung, was Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter des Bundes, zu sagen hatte. Der meinte es zwar gut, verfehlte das Ziel aber auch ganz knapp. Durch seine Holocaust-Relativierung habe Abbas jegliche Sensibilität „gegenüber uns deutschen Gastgebern vermissen lassen“, sagte Klein.
Fällt Ihnen was auf? Scholz und Klein stellen gleichermaßen die Deutschen ins Zentrum ihrer Empörung. Man möchte einmal nachfragen, ob die beiden nicht verstanden haben, wer tatsächlich unter Holocaustrelativierungen und Antisemitismus leidet? Zum Mitschreiben: Es sind Jüdinnen und Juden.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die Deutschen feiern sich ja selbst gerne dafür, wie super sie die Vernichtung von 6 Millionen Juden aufgearbeitet haben. Die Verletzung darüber, dass sich Abbas im Täterland so äußert, wie man es nur von einem Mann erwarten kann, der schon in seiner Dissertation vor 40 Jahren den Holocaust relativierte, muss wirklich tief sitzen.
Sich selbst als vorbildlich, als Weltmeister der Erinnerung an die Shoa zu begreifen, ist bis heute ein zentrales Element des deutschen Selbstverständnisses. Der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sei „nicht weniger als die größte Lüge der Bundesrepublik“, schrieb Samuel Salzborn, Politikwissenschaftler und Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin, treffend in seinem Buch „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“. Sein Kollege Felix Klein müsste es eigentlich besser wissen.
Erneuter Antisemitismus-Vorwurf bei der documenta
Das alles fällt natürlich sehr unglücklich in eine Zeit, in der sich genug andere in Deutschland als Volldeppen in Sachen Antisemitismuserkennung erwiesen haben und zeigen, dass hier eben gar nix super läuft und der Weltmeistertitel noch sehr weit weg ist. Erst diese Woche tauchte schon wieder eine antisemitische Karikatur auf der documenta auf. Und erneut sind die Urheber des „Kunstwerks“ Taring Padi, deren Werk den Auftakt gemacht hatte in der Reihe Antisemitismus-in-der-Kunst-der-nicht-zu-übersehen-ist-und-doch-niemanden-interessiert.
Ein Triptychon zeigt diesmal mehrere Personen mit Geldsäcken. Einen davon mit langer Nase, wulstigen Lippen und hämischem Grinsen, auf dem Kopf eine Kippa, die abgeklebt war. So berichtet es das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, das es entdeckt hatte. Mal wieder wollte die künstlerische Leitung der documenta „keinerlei antisemitische Bildsprache“ verzeichnen können. So gut funktioniert das mit dem deutschen Antisemitismusradar.
Ein entschiedener Einsatz gegen Antisemitismus ist keine Selbstverständlichkeit in Deutschland. Die Frage ist, wann Weltmeisterdeutschland sich darüber empören wird.
Hinweis: Die künstlerische Leitung der documenta fifteen, das indonesische Kollektiv ruangrupa, hat mittlerweile mit einer ausführlichen Kontextualisierung auf den Vorwurf reagiert. Demnach handele es sich bei der Kopfbedeckung des Grinsenden auf dem Holzschnitt „nicht um die Darstellung einer jüdischen religiösen Kopfbedeckung“. Die überarbeitete Figur auf dem Bild von Taring Padi zeige vielmehr eine klassische und weit verbreitete indonesische Kopfbedeckung: die „kopiah“ oder „peci“ in Bahasa Indonesia.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau