Abschaltung deutscher Atomkraftwerke: Rasanter Anstieg der Stromimporte?
Britische Analysten sehen Deutschland inzwischen als zweitgrößten Nettoimporteur Europas. Doch nicht alle Experten teilen diese Einschätzung.
Allerdings sehen nicht alle Marktbeobachter einen so großen Stromimportsaldo auf Deutschland zukommen. Mirko Schlossarczyk, Geschäftsführer des Berliner Beratungsunternehmens Enervis, rechnet sogar damit, dass der Importsaldo in diesem Jahr eher zurückgehen wird, als dass er weiter ansteigt.
Letztlich hänge die Import-Export-Bilanz aber an vielen Faktoren wie etwa dem Wetter, das die Erzeugung aus erneuerbaren Energien prägt. Auch der Stromverbrauch und die Preise von Kohle, Erdgas und CO2 haben einen großen Einfluss auf die Erzeugung – und damit auf die grenzüberschreitenden Lastflüsse.
Wegen der Vielschichtigkeit des europäischen Strommarkts lassen sich manche Beobachter der Branche auf eine Prognose gar nicht erst ein. Der Thinktank Agora Energiewende, der sonst mit Szenarien zur deutschen Energiewirtschaft immer schnell bei der Hand ist, teilte auf Anfrage mit, er nehme bezüglich des Stromimports keine Abschätzungen vor.
Stein- und Braunkohlekraftwerke gehen vom Netz
Die Marktbeobachter von Icis jedoch sehen Deutschlands Weg vorgezeichnet: Nachdem das Land in den vergangenen zehn Jahren innerhalb Europas der zweitgrößte Nettoexporteur von Strom war (nach Frankreich), habe es binnen nur zwei Jahren seine Rolle zum zweitgrößten Nettoimporteur gewandelt – hinter Italien. Dass die Stromimporte im Jahr 2024 gegenüber dem Vorjahr so massiv steigen werden, liege daran, dass im laufenden Jahr in Deutschland mehr als zehn Gigawatt an Stein- und Braunkohlekraftwerken vom Netz gehen werden, so Icis.
Und auch der Wegfall der letzten drei deutschen Atomkraftwerke, die im Jahr 2023 noch knapp 7 TWh zur hiesigen Stromerzeugung beitrugen, hat natürlich Auswirkungen auf die Importbilanz, weshalb unter anderem Wirtschaftsverbände und Unionspolitiker eine Rückkehr zur Atomkraft fordern.
Die Icis-Importprognose basiert allerdings auf der Annahme, dass die französischen Atomkraftwerke 2024 wieder eine höhere Verfügbarkeit haben als in den vergangenen beiden Jahren. 2022 hatte deren Erzeugung auf dem niedrigsten Stand seit mehr als 30 Jahren gelegen. Steigt die Erzeugung französischer Atomkraftwerke – Icis nimmt ein Plus von elf TWh gegenüber dem Vorjahr an – würde der Atomstrom auch fossile Stromerzeugung in Nachbarländern verdrängen – und Deutschland damit höhere Importe bescheren.
Die fossilen Kraftwerke werden zugleich durch den Zubau an erneuerbaren Energien in Europa zurückgedrängt. Die britischen Marktbeobachter rechnen mit zusätzlich 33,4 Gigawatt an Photovoltaik und 17,4 Gigawatt an Windkraft im Jahr 2024.
Damit steige die Erzeugung aus diesen beiden Quellen gegenüber dem Vorjahr um 106 TWh. Ein Betrieb der bestehenden deutschen Kohlekraftwerke sei damit in vielen Stunden nicht mehr kostendeckend möglich, weshalb die Kraftwerke ihre Erzeugung auf die Stunden mit hohen Strompreisen beschränkten.
Entsprechend weist Branchenkenner Schlossarczyk darauf hin, dass ein Stromimportsaldo Deutschlands nicht zwangsläufig ein Indiz dafür sei, dass es hierzulande an Kraftwerken fehlt oder dass Kapazitätsengpässe existieren: „Der deutsche Strommarkt ist Teil eines vernetzten, integrierten europäischen Strombinnenmarkts“, sagt er. Dies führe „aus Effizienzgesichtspunkten“ dazu, dass Strom importiert wird, wenn die Kraftwerke im Ausland Deutschland kostengünstiger versorgen können als die heimischen Kraftwerke.
Das heißt: Selbst wenn Icis recht behalten sollte und der deutsche Importüberschuss dieses Jahr drastisch ansteigt, wäre das zwar ein Politikum – aber noch kein Indiz für fehlende eigene (Atom-) Kraftwerke.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen