der leitartikel
: Um Abschreckung zu garantieren, braucht es die US-Langstreckenraketen in Deutschland

Von Tanja Tricarico

Es gibt Vereinbarungen, die wirken wie ein Fußtritt, der in die Realität katapultiert. So auch die Ankündigung, dass die USA ab 2026 wieder weitreichende Waffen in Deutschland stationieren wollen. Die viel beschworene echte Zeitenwende materialisiert sich – und zwar konkret in US-amerikanischen Tomahawk-Marschflugkörpern, die bis nach Moskau fliegen können – von Deutschland aus. Seit dem Ende des Kalten Kriegs hat es das nicht gegeben.

Die Vereinbarung zwischen Deutschland und den USA ist Teil einer sichtbar werdenden weltweiten Aufrüstung, ausgelöst durch die russische Invasion in der Ukrai­ne im Februar 2022. Eindrücklich konnte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg als einer seiner letzten Amtshandlungen Rekordwerte bei den Verteidigungsausgaben der Mitglieder vermelden.

Erfüllt wird die Nato-Quote von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von 23 Staaten. Tendenz steigend. Von einer Eskalationsspirale ist die Rede, von Aufrüstungsmanie und dem gefährlichen Spiel mit dem Feuer. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht gar von einer „effektiven Abschreckung“. Es sind keine schönen Erinnerungen an die 1980er Jahre. Ein Grund zu feiern ist die Umsetzung der Zeitenwende sicher nicht.

Tanja Tricarico ist im Auslands­ressort der taz zuständig für EU, Nato und UN.

In der bitteren Debatte um den Fokus auf Kriegsgerät, geht häufig aber unter, mit wem die Weltgemeinschaft es zu tun hat. Der russische Präsident Wladimir Putin hat nur einen Tag vor dem Nato-Gipfel in Washington seine brutale Entschlossenheit gezeigt. Der Angriff auf eine Kinderklinik in Kyjiw ist erneut eine Zäsur, in diesem verfahrenen Krieg. Mehr als 30 Menschen starben landesweit bei den Bombardements.

Bomben auf die Zivilbevölkerung, auf öffentliche Plätze, auf Kritische Infrastruktur, auf Bahnhöfe, Theater und Einkaufszentren sind seit Beginn der Invasion Teil der russischen Kriegsführung, kombiniert mit Cyberangriffen, Sabotage und Spionage. Behörden werden lahmgelegt, Desinformationskampagnen gestartet, Energieversorger gestört.

Für Empörung und Entsetzen sorgte zuletzt die Nachricht, dass die russische Regierung offenbar ein Attentat auf den Chef des deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall plante. All das zeigt, dass es bei der russischen Invasion in der Ukrai­ne nicht um einen territorialen Konflikt geht, sondern um einen Krieg gegen den „gesamten kollektiven Westen“, in dem die Ukraine von Moskau lediglich als Vorposten beschrieben wird. Die ukrainischen Streitkräfte bitten aus reinem Selbstverteidigungstrieb ihre Unterstützer, um Erlaubnis verstärkt russisches Territorium anzugreifen. Schließlich fehlt es schlicht an Luftabwehr.

Es sind keine schönen Erinnerungen an die 1980er Jahre. Ein Grund zu feiern ist die Umsetzung der Zeitenwende nicht

Sind damit jegliche Bemühungen um einen Frieden in der Ukrai­ne passé? Russland kündigte als Reaktion auf die künftige Stationierung der Marschflugkörper militärische Maßnahmen an. Truppenübungen, Manöver oder die Verlegung von schlagkräftigen Bomben etwa an die Grenzen zu Finnland, zu den baltischen Staaten oder in Belarus sind eine Macht­de­mons­tra­tion, die seit Monaten in unterschiedlicher Intensität anhält. Unmissverständlich auch die Ansage Moskaus, an einem Folgetreffen nach der Friedenskonferenz in der Schweiz im Juni nicht teilnehmen zu wollen. All dies zeigt, dass keine Bereitschaft für Verhandlungen auf Augenhöhe und ohne Bedingungen besteht.

Wahr ist aber auch, dass für die Bundesregierung diplomatische Ini­tia­tiven derzeit offenbar keine Prio­ri­tät haben. Die aktuellen Haushaltsverhandlungen zeigen, dass Bundesentwicklungsministerium und Außenamt – also Ministerien, in deren Bereich solche Initiativen fallen würden – derzeit um ihre Budgets kämpfen müssen. Zu Lasten des Wehretats. Dabei liegt es im Aufgabenprofil dieser Ressorts, über Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit Gesprächskanäle offenzuhalten. Insbesondere mit Staaten im Globalen Süden, die auch unter den Folgen der russischen Invasion zu leiden haben. Sie gilt es zu stärken und für die Verbündeten und für den Weg zum Frieden zu gewinnen.

Illustration: Robert Samuel Hanson

Die Nato strotzt vor Stärke wie seit Langem nicht mehr. Trotz politischer Instabilität in etlichen Mitgliedsländern und der Unwägbarkeit, ob Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht. Von einer „hirntoten“ Nato, wie sie einst Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nannte, ist keine Rede mehr. Der Krieg in der Ukraine war und ist ein Booster für eine Ins­ti­tu­tion, die sich wieder gezwungen sieht, auf Frieden durch Abschreckung mit militärischen Mitteln zu setzen. Im Umgang mit dem Aggressor Putin gibt es derzeit keinen anderen Weg.

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