Bündnis Sahra Wagenknecht vor der Wahl: Eine Gleichung mit Unbekannten

Die Europawahl wird zeigen: Ist Sahra Wagenknechts Partei ein medialer Hype oder wird sie zum politischen Faktor?

Wahlplakagt mit dem Proträt von Sahra Wagenknecht und der Botschaft: Kriege beenden

Allgegenwärtige Namensgeberin: Europawahlplakate vom Bündnis Sahra Wagenknecht Foto: Franz Feiner/eibner/picture alliance

TEMPLIN DÜSSELDORF taz | Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ ist derzeit die große Unbekannte in der deutschen Politik. Kann es ein Mittel gegen die AfD sein? Ist es eine neoautoritäre Pro-Putin-Partei? Eine Art bundesdeutsche Version der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung? Ein One-Hit-Wonder wie die Piratenpartei, steiler Aufstieg, jäher Fall? Oder etwas ganz anderes?

Detlef Tabbert sitzt in seinem Bürgermeisterbüro im Templiner Rathaus und sagt: „taz lese ich auch manchmal.“ Er findet es „toll, dass sich eine liberale, linke Zeitung so erfolgreich gegen Konzerne behauptet“. Tabbert, seit 2010 in der Linkspartei, war gerade im Stadtwald, das brandenburgische Templin ist zur Waldhauptstadt gekürt worden. Schöner Termin, gute Bilder. Besser als wenn in der Zeitung steht, dass hier „Neonazis auftreten“, sagt Tabbert. Und gut für den Tourismus.

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Templin ist Kurort, 16.000 Einwohner, viel Wasser, historischer Stadtkern. Tabbert ist seit 14 Jahren Bürgermeister. Die letzte Wahl gewann er mit über 60 Prozent. Der ganze Stolz ist der öffentliche Nahverkehr. Das Ticket kostet 44 Euro im Jahr, für eine Fläche größer als München, sagt er. Günstig und gute Taktung. Templin hat zehn Mal so viel Fahrgäste wie vergleichbare Städte. Und erzeugt das Gros der Energie, die die Stadt verbraucht, mit Erneuerbaren. Die Klimapolitik der Ampel findet Tabbert hingegen „ideologisch verblendet“. Man müsse auf Anreize setzen, „nicht auf Verbote“ wie beim Aus für Verbrenner.

Tabbert ist gerade aus der Linkspartei aus- und dem BSW beigetreten. Warum? „Die Linkspartei kümmert sich zu viel um Minderheiten und zu wenig um die arbeitende Bevölkerung, um Handwerker und Krankenschwestern“. Ist das nicht ungerecht? Die Linke versucht doch beides zu verbinden. Ja, sagt Tabbert, dem Eiferertum fern liegt und der als Kommunalpolitiker ein Mann des Ausgleichs ist. Trotzdem: Seine Ex-Genossen würden „das klare Wort scheuen“ und „wissenschaftlich verklausuliert“ am Volk vorbeireden. Diese Gefahr ist bei der BSW-Drei-Worte-Agitation – ein Wahlplakat fragt: „Krieg oder Frieden?“ – in der Tat gebannt.

Das Ländliche sieht Bürgermeister Tabbert in der Linkspartei ignoriert. „Die wollen die Grünen links überholen.“ Man brauche auf dem Land eben das Auto, und neben Bio- auch konventionelle Landwirtschaft. Das wolle die Großstadtpartei Die Linke nicht wahrhaben.

Die alten Schemata versagen

Zu Wagenknecht sind aus der Linken-Bundestagsfraktion Vertreter des linken Flügels gewechselt, wie Sevim Dağdelen, Andrej Hunko und Amira Mohamed Ali. Aber die Schemata Links-Rechts, Fundi-Reformer greifen hier nicht. Vor Ort wechseln zwischen Templin und Dresden eher handfeste Realpolitiker zum BSW, die früher zum Lager der Ost-Reformer gehörten.

Porträt von Detlef Tabbert - er sitzt in Anzug und roter Krawatte auf einer Bank an einem Badesee

Detlef Tabbert, Bürgermeister von Templin Foto: Patrick Pleul/picture alliance

Dabei ist schon erstaunlich, wie locker dem freundlichen Bürgermeister Tabbert Sätze über die Lippen gehen, die man eher in CSU-Bierzelten vermutet. Er redet von „einem gesunden Stolz auf das eigene Land“ und findet es okay, die Farben der deutschen Fahne am Revers zu tragen. Man dürfe „unsere nationalen Symbole nicht den Rechten überlassen“. Das Neue am BSW sei eben, „soziale Orientierung und konservative Grundwerte“ zu verbinden sowie „soziale Marktwirtschaft und vernünftiges Heimatbewusstsein“. Eine Formel, die rechte Unionspolitiker aus vollem Herzen begrüßen dürften.

Tabbert glaubt, dass das BSW damit eine Lücke in der Par­teien­landschaft füllt. Man sei für „Arbeitnehmer, wirtschaftliche Entwicklung, eine vernünftige Migrations- und Friedenspolitik“. Als Anti-AfD-Kraft versteht er die Partei nur nebenbei. Dazu passen die Ergebnisse bei der Kommunalwahl in Thüringen, wo sie in einzelnen Städten und Kreisen antrat. Die BSW-Erfolge gingen dort mehr zu Lasten der Linkspartei als der AfD.

Zum links-rechten Politikmix passt, dass Tabbert zackig die schnelle und konsequente Abschiebung von kriminellen Ausländern fordert, andererseits das Arbeitsverbot für Flüchtlinge kritisiert. In Templin leben derzeit 150 Geflüchtete. Die Integration „funktioniert recht gut“, sagt er. Ein großes Hotel würde gern mehr Leute einstellen. Tab­bert ist überzeugt, dass Arbeit der Integration hilft und es fatal ist, wenn Flüchtlinge jahrelang in Asylheimen an die Decke gucken. Man dürfe „bei aller Konsequenz die Humanität nicht vergessen“, sagt er.

Die Haltung zu Hartz IV und Bürgergeld

Tabbert stammt aus Templin, hat in Freiburg Finanzwirtschaft studiert und war, bevor er Bürgermeister wurde, Unternehmer. Interessant ist seine Haltung zum Bürgergeld. Wer Hilfe braucht, müsse genug bekommen, um vernünftig zu leben. „Aber wer in der Hängematte liegen will, muss vom Jobcenter sanktioniert werden können.“ In Templin gebe es hundert Jüngere, die Bürgergeld bekommen. Die Therme Templin sucht vergeblich Bademeister. Das sei „leichte Arbeit“. Aber niemand will. Da müsse man mit negativen Anreizen nachhelfen.

Dass Sanktionen dazu führen, dass Jüngere oft jeden Kontakt zum Jobcenter abbrechen, beeindruckt Tabbert nicht. Der Widerstand gegen Hartz IV gehört zur DNA der Linkspartei. Doch der BSW-Mann sieht das anders. „Wer fit ist und keine Lust hat zu arbeiten, muss sanktioniert werden. Das habe ich schon immer so gesehen.“

Keine Position ist neu, nur die Mixtur. Bei Integration und Flüchtlingspolitik klingt manches nach CSU, anderes nach Grünen. Außenpolitisch hat Tab­bert viel Verständnis für Russland und unfreundliche Worte für die Grünen. Beim Bürgergeld klingt er wie ein rechter Sozialdemokrat.

Also genau so wie Thomas Geisel. Der war bis 2020 SPD-Oberbürgermeister in Düsseldorf und ein vehementer Anhänger von Schröders Agenda 2010. Die habe die Arbeitslosigkeit gesenkt und Deutschland auf Wachstumskurs gebracht wurde, schrieb er 2023, und kritisierte das Bürgergeld, das Hartz IV ersetzte. Es dürfe keinen Anreiz geben, „sich staatlich alimentieren zu lassen, obwohl man grundsätzlich in der Lage wäre, selbst zum eigenen Unterhalt beizutragen“.

„Ich bin eben Verfechter des Leistungsprinzips“, sagt Geisel heute. Er wechselte im Januar zum BSW und ist jetzt Spitzenkandidat für die Europawahl. Die SPD nahm seinen Abgang kühl hin. „Ich vermute, er hat Langeweile und braucht etwas zu tun“, kommentierte der nordrhein-westfälische SPD-Landtagsfraktionschef Jochen Ott lakonisch.

Das Thema Frieden im Wahlkampf

Am Dienstagnachmittag dieser Woche steht Geisel auf dem Schadowplatz im Herzen von Düsseldorf auf einer Bühne und wirbt für seine neue Partei. Gekommen sind rund 300 Leute, viele Weißhaarige, auch Jüngere, wenige zwischen 30 und 50. Mit seiner rechtssozialdemokratischen Haltung steht Geisel beim BSW nicht allein.

Thomas Geisel steht in blauem Anzug und offenem Hemd an einem Mikrofon und spricht mit erhobenem Zeigefinger

Thomas Geisel, BSW-Spitzenkandidat für die Europawahl Foto: Thomas Banneyer/dpa

Auch Sahra Wagenknecht hat vor einer Erhöhung des Bürgergelds gewarnt, „so lange Missbrauch nicht stärker eingedämmt wird“. Das Lied vom massenhaften Missbrauch singen sonst Union und FDP. Dass Geisel Hartz IV verteidigt hat, wissen manche UnterstützerInnen nicht: „Was, echt?“, fragt die 63-jährige Bettina, die extra aus Bochum gekommen ist und Erwerbsminderungsrente und Wohngeld bezieht.

Geisel, als Redner ein Politprofi, spürt schnell welches Thema besser zündet: Frieden. Es sei „völlig klar“, dass Putin einen „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ führe, der „durch nichts zu rechtfertigen“ sei. Dann kommt das große Aber.

Der „Überbietungswettbewerb für noch mehr Aufrüstung“ sei unerträglich. Die FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann träume vom „Endsieg in der Ukraine“. Das Publikum schwenkt Fahnen mit der weißen Friedenstaube auf blauem Grund. „Waffenexporte stoppen! Verhandeln jetzt!“ steht darauf. Angefeuert vom Applaus legt Geisel nach. Der Grüne Anton Hofreiter, den er „Panzer-Toni“ nennt, wolle mit deutschen Waffen Russland angreifen. „Wir wollen schießen, schießen, schießen, den Krieg immer weiterführen“, klagt der BSW-Spitzenmann.

Wer war noch gleich Aggressor, wer Opfer? Bei einem Gespräch einen Tag später versichert Geisel, er sei kein „Putin-Versteher“. „Klar zahlt das Thema Frieden bei uns ein“, sagt er in einem Café in Düsseldorfs Innenstadt. Um Russland „zur Aufnahme von Verhandlungen zu motivieren, sollte für diesen Fall der sofortige Stopp aller Rüstungsexporte in die Ukrai­ne angeboten werden“, heißt es im BSW-Europawahlprogramm, an dem Geisel mitgearbeitet hat. Der Ukrai­ne solle ohne Gesprächsbereitschaft der EU-Geldhahn zugedreht werden. Vor Verhandlungen müsse aber ein Waffenstillstand her, räumt Geisel ein. Beide Seiten müssten ihr Militär kilometerweit von der Front zurückzuziehen. Auf dem Schadowplatz hat das friedensbewegte Publikum von solchen Details nichts gehört.

Die EU als Feindbild

Das BSW setzt auf Angstbewirtschaftung in Sachen Krieg und Frieden, Elitenverachtung in hohen (Wagenknecht) oder niedrigen Dosen (Tabbert und Geisel) und auf harte Töne bei Migration. Eine populistische Partei, allerdings ohne krassen Extremismus. Daneben gibt es noch ein unscheinbares, aber wirksames Motiv. Ex-OB Geisel skizziert Brüssel als „entrückte Behörde“ und klagt über einen europäischen „Superstaat“, der immer mehr entscheide, was vor Ort besser aufgehoben sei. Es ist ein Plädoyer gegen Zen­tra­lismus und für die Macht der Kommunen.

Auch Tabbert klagt über die Umwelt- und Wirtschaftsbürokratie in Potsdam mit ähnlicher Verve wie über arbeitsunwillige Jungmänner. Für alles brauche man teure Gutachter und externe Berater. „Anstatt die Handlungsfähigkeit der Kommunen zu erhöhen, nimmt die Kontrollitis verrückte Züge an.“ Es ist ein scheinbar unideologischer, vernünftiger Widerstand gegen eine als anonym wahrgenommene Machtstruktur, und spiegelt die Stimmung eines Kleinbürgertums, dass sich fremdbestimmt fühlt. Dieses Lob der Subsidarität, eine Idee der katholische Soziallehre, mischt sich mit preußischem Arbeitsethos und dosiertem Nationalstolz, der Zugehörigkeit in einer unübersichtlichen Welt verspricht. All das wird überstrahlt vom Star an der Spitze.

Ist das BSW ein autoritäres Modell? Eine Chefin, sonst nur Bauern? „Wir sind einfach gut organisiert“, findet Bürgermeister Tab­bert. Macron habe in Frankreich ja auch eine Partei um sich gruppiert. Die Fixierung auf Wagenknecht hält Tabbert für nützlich für die Startphase. „Wir werden eine ganz normale Partei.“ Ausgegoren wirkt all das nicht. Die Europawahl wird erstmals zeigen, ob das BSW eher ein mediales Umfragephänomen ist oder eine ernstzunehmende Kraft werden kann. In Umfragen steht die Partei bei 6 Prozent. Am Abend des 9. Juni wird es ernst.

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