Fehler der Ukraine: Nicht zu rechtfertigen

Die Ukraine bekämpft einen Aggressor. Doch das entschuldigt nicht eigenes Fehlverhalten. Über ein verstörendes Video und unnötige Parteiverbote.

Graffiti mit dem Kopf Putins und einem roten Punkt in der Stirn, daneben steht "Sieg der Ukraine"

Graffiti mit dem Gesicht Putins. „Sieg der Ukraine“ bedeutet die Schrift Foto: Vadim Ghirda/ap

Die Ukraine verteidigt sich nicht nur gegen einen Aggressor, sie verteidigt auch europäische Werte, heißt es immer wieder aus Kiew. Das stimmt, doch gleichzeitig sind Entwicklungen zu beobachten, die so gar nicht zu diesem Leitsatz passen und die der Glaubwürdigkeit des Landes Schaden zufügen könnten.

Ein Beispiel: Derzeit macht ein Video in den ukrainischen sozialen Netzen die Runde. Es zeigt russische Kriegsgefangene zusammengepfercht und mit verbundenen Augen auf dem Boden liegend, vor ihnen steht wie ein Dirigent ein ukrainischer Soldat, schreit auf sie ein. Und die Gefangenen singen die ukrainische Nationalhymne.

Natürlich tun sie das nicht freiwillig. Der ukrainische Soldat, der sie auffordert, lauter zu singen, weiß, wie er sich einen lauten Chor erzwingen kann. Derartige Bilder mögen für die vom russischen Überfall geschundenen ukrainischen Seelen Balsam sein. Doch sie spielen Putin in die Hände, der mit derartigen Bildern das eigene Volk aufputschen kann.

Kürzlich haben der Nationale Sicherheitsrat und Präsident Wolodimir Selenski elf politische Parteien verboten. Ihnen allen werden Beziehungen zu Russland vorgeworfen. Verfassungsrechtlich ist das Verbot durch das Kriegsrecht zwar gedeckt, aber ist es Ausdruck einer liberalen Grundhaltung? In Umfragen wurde die mit 44 von 450 Abgeordneten in Parlament vertretene Partei „Oppositionsplattform für das Leben“, die nun verboten ist, zeitweise mit 17 Prozent Zustimmung gehandelt.

Es ist ein Fehler der ukrainischen Regierenden, viele ihrer Kritiker als „prorussisch“ auszugrenzen. Genauso wie Russlands Herrscher Wladimir Putin hat sich auch das Umfeld von Selenski geirrt: Die meisten der vermeintlich „prorussischen“ Gegner des ukrainischen Präsidenten sind keine 5. Kolonne Moskaus. Und das haben sie in den ersten Wochen des russischen Überfalls auf die Ukraine auch längst bewiesen.

Am 20. August 2021 hatte der Nationale Sicherheitsrat der Ukraine das Selenski-kritische Portal strana.ua landesweit gesperrt. Auch wenn offiziell keine Begründung für diese Zensur angegeben wurde, war der Grund klar: Das Portal galt als „prorussisch“ und so etwas wollte man nicht haben. Doch wer strana.best, wie es sich jetzt nennt, in diesen Tagen liest, kann kaum noch einen Unterschied zu „proukrainischen“ Medien feststellen.

Es ist ein Fehler der ukrainischen Regierenden, viele ihrer Kritiker als „prorussisch“ auszugrenzen

Wohl kaum ein ukrainischer Politiker hatte so das Label „prorussisch“ an seinem Image haften wie der Politiker Oleksander Wilkul, derzeit Leiter der Militärverwaltung von Krywyj Rih. Er ist Mitglied der Werchowna Rada und war von Dezember 2012 bis zum 27. Februar 2014 unter Wiktor Janukowitsch stellvertretender Ministerpräsident der Ukraine.

Als vor wenigen Tagen sein ehemaliger Parteifreund Oleg Zarew, der inzwischen auf der Seite der Russen steht, ihm eine Zusammenarbeit mit den vor Krywyj Rih stehenden russischen Truppen vorschlug, erwiderte Wilkul ihm nur: „Verpiss dich, du Verräter.“ Und der „prorussische“ Politiker Michail Dopkin, ehemaliger Bürgermeister von Charkiw und 2014 noch ein Gegner der Maidan-Bewegung, hatte sich kurz nach dem russischen Überfall auf die Seite von Präsident Selenski und der ukrainischen Armee gestellt.

Chance zur Versöhnung

Ähnlich verhielten sich das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine, Metropolit Onufri, und der Schwergewichtsprofiboxer Oleksandr Usyk. Der beste Boxer der Welt, dem man immer wieder Sympathien für Russland unterstellt hatte, hatte sich sofort nach Beginn des Überfalls mit dem Gewehr in der Hand der ukrainischen Landesverteidigung angeschlossen.

Niemand aus dem sogenannten „prorussischen Milieu“ der Ukraine hat die russischen Besatzer mit Blumen empfangen. Deswegen ist es ein Fehler, diese Kräfte mit Verboten auszugrenzen. Vielmehr sollte die Regierung sie noch mehr einbinden. Jedes Besatzerregime braucht für eine Besatzung ein Mindestmaß von Unterstützung eines Teils der Bevölkerung. Diese Unterstützung hatte man sich in Russland wohl von den sogenannten „prorussischen“ Kräften erhofft.

Aufgabe der ukrainischen Regierung ist es jetzt, diese Kreise für sich zu gewinnen. Gelingt das der Regierung, nimmt sie der russischen Propaganda den Wind aus den Segeln. Gerade jetzt, so der Charkiwer Journalist Stanislaw Kibalnyk, gibt es im Angesicht des russischen Überfalls die Chance, die Kluft zwischen den verfeindeten ukrainischen Milieus von „prorussischen“ und „proukrainischen“ Kräften zu überwinden.

Die Fehler der „Guten“

Am 2. Mai 2014 wurden Dutzende „prorussicher“ Demonstranten im Gewerkschaftshaus von Odessa verbrannt. Dieser Brand ist auch heute ein weitgehend unbearbeitetes Trauma in der ukrainischen Gesellschaft. Während der prowestlichen Opfer des Maidan mit Denkmälern und Straßennamen gedacht wird, unterdrücken die ukrainischen Behörden jedes Erinnern an diese Opfer.

Mehrmals versuchten Angehörige der Opfer von Odessa, ein Denkmal für die Toten zu errichten, und immer wieder scheiterten sie am Widerstand der Behörden. Die Errichtung eines Denkmals für die Opfer von Odessa, Worte von Präsident Selenski an die trauernden Angehörigen des Brandes vom 2. Mai 2014 wären ein Balsam für ein friedliches Zusammenleben verfeindeter Milieus und gleichzeitig ein Imagegewinn für die Ukraine.

In jedem Krieg kommt es zu Verbrechen, Menschenrechtsverletzungen und Fehlentscheidungen – auch auf der Seite der „Guten“. Nicht alles lässt sich unter Bombenhagel und angesichts abgeschnittener Kommunikationswege verhindern. Die ukrainische Regierung wäre jedoch gut beraten, sich dem unzweideutig entgegenzustellen und sich von allem fernzuhalten, was mit demokratischen Werten schwer vereinbar ist. Man kann nicht für Ideale kämpfen, für die man selbst nicht einsteht.

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Jahrgang 1957, ist Ukraine-Korrespondent der taz und spricht Russisch und Ukrainisch. Er hat sich lange in den Bereichen Frieden, Menschen­rechte, Anti-AKW engagiert. Er arbeitet mit Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen in der ehemaligen UdSSR und in Deutschland zusammen.

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