Corona-Risikogruppe: Bringt uns bitte nicht um! Danke!

Wer aus Frust, Gier oder Partylust den Corona-Lockdown zu früh aufheben will, muss wissen: Die Risikogruppe möchte noch nicht sterben.

Eine Person in Schutzkleidung schiebt eine Patientin in einem Rollstuhl durch eine Lagerhalle.

Madrid, 31. März: Ein Arbeiter überführt eine Patientin in das provisorische Krankenhaus Foto: dpa

Der nationale Shutdown lässt die Wirtschaft ächzen. Viele erleben eine Einschränkung ihres bisher freien, wenn nicht luxuriösen Lebensstils: Hier und da wird die Frage in den Raum gestellt, ob und wie lange diese Einschränkungen noch hingenommen werden müssen, nur weil Menschen über 60 Jahre, die sowieso in geraumer Zeit vom Sensenmann geholt würden, am Covid-19 versterben würden. Darf man, um Senioren vor einer Infektion zu schützen, die gesamte Wirtschaft lahmlegen?

Was bei dieser Fragestellung nicht bedacht wird, ist, dass die „Risikogruppe“ eben nur zu einem Teil aus Senioren besteht: Da gibt es nämlich noch den oft vergessenen Teil Menschen, die aufgrund einer Vorerkrankung oder Behinderung ebenfalls für einen schweren Verlauf einer Coronavisurinfektion prädestiniert sind. Diese Menschen gehen arbeiten, sie nehmen am Leben teil, haben Familie und Freunde, und bestimmt kennt jeder jemanden, der zu dieser Gruppe dazugehört.

Je länger der Shutdown dauert, desto lauter schreien alle nach Freiheit, nach Alltag und plötzlich auch nach ihrer einst doch oft verhassten Arbeit. Wo vor einigen Wochen noch morgens um sechs der genervte Blick in den Spiegel vor der Fahrt zur Maloche alltäglich war, vermisst man sie nun plötzlich.

Wenn man einigen Medizinern, die über WhatsApp ihre Weisheiten verbreiten, glauben mag, versterben nur Risikopatienten an Covid-19. Da werden Stimmen laut, die die sofortige Aufhebung des Shutdowns verlangen und eine vollständige Isolation der Risikogruppe als Universalschutzfaktor vor allem und jedem, insbesondere dem wirtschaftlichen Zusammenbruch für sinnvoll halten.

Fahrlässige Tötung

Wie aber sähe denn die Isolation der Risikogruppe aus? Sie kann nicht aussehen. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, eine vollständige Zwangsquarantäne aufzubauen, wenn nicht auch Hilfsmaßnahmen wie der regelmäßige Besuch des Pflegedienstes eingestellt werden.

Isolation bedeutet, pflegebedürftige Menschen sich selbst zu überlassen

Für eine vollständige Zwangs­isolation müsste man konsequent auch pflegebedürftige Menschen sich selbst überlassen. Es grenzte schon an fahrlässige Tötung, hilfsbedürftigen Menschen, die einen großen Teil der Risikogruppe ausmachen, aufgrund einer angeordneten Isolation lebensnotwendige Hilfen zu versagen, denn spätestens der Sensenmann wird Kontaktverbot und Isolation ignorieren und die Quarantäne auf seine ganz eigene Art und Weise aufheben. In Pflegeeinrichtungen feiert er dann mit seinen Kollegen eine krasse Party.

Wir Luxusbehinderte mit persönlicher Assistenz haben es bei einem flexiblen Team wohl etwas vorteilhafter in der Zwangsquarantäne. Wir hätten die Möglichkeit, einen Assistenten mit in die Quarantäne zu nehmen, während die anderen uns mit lebensnotwendigen Dingen wie Lebensmittel, Klopapier und Alkohol beliefern.

Zwangsquarantäne mit Assistenz heißt aber auch, dass ein Assistent dann die gesamte Zeit der Quarantäne ununterbrochen für die Versorgung des Assistenznehmers zuständig ist. Bei Arbeitsrechtlern werden jetzt die Alarmglocken schrillen. Wer errät, warum?

Es kann jeden treffen

Richtig! Die gemäß Arbeitsschutzgesetz maximal zulässige Tagesarbeitszeit von zwölf Stunden wird über einen Zeitraum von mindestens 14 Tagen jeden Tag aufs Doppelte überschritten. Deshalb muss das in freiwilligem beiderseitigem Einvernehmen passieren und darf niemals von offizieller Stelle angeordnet werden. Andernfalls geht die Tendenz in der persönlichen Assistenz gen Friedhof.

Das Geschwafel, dass nur alte Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen an Covid-19 versterben, ist ein Mythos. In Italien, Spanien, den USA und auch schon in Deutschland hat sich gezeigt, dass es jeden treffen kann. Auch hart arbeitende, weiße Männer, die sich mit ihrem unbändigen Wissen über Gott und die Welt dafür einsetzen, das alles läuft, auch die unkontrollierte Verbreitung von Sars-CoV-2.

Der Digitalisierung in Deutschland täte es bestimmt gut, wenn wir nicht mehr so viele Fachkräfte in der Wirtschaft hätten. Auch wenn sie sich teilweise schon fast als immun betrachten, wird der Sensenmann auch sie sehr gern zum Frühstück verspeisen.

Da eine systematische Isolation bzw. Ausgrenzung, wie ich es nennen würde, von Randgruppen durch das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und die UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 5 Abs. 1) nicht zulässig ist, ist es wichtig, dass wir alle, auch wenn wir es nicht mehr hören können und gerne wieder frei wären, solidarisch sind und uns gemeinsam dafür einsetzen, dass niemand, egal ob er sich vollständig ­isolieren kann oder nicht, unfreiwillig mit Sars-CoV-2 infiziert wird.

Völlig unabhängig davon, ob er zur Risikogruppe gehört oder nicht, denn: „Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg auch keinem andern zu.“ Ein Grundsatz, den jeder kennt, der schon Hahrtausende alt ist und der immer noch Aktualität besitzt.

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