Wirtschaftshistoriker zu Schuldenbremse: „Wachstum könnte soziale Spannungen verstärken“
Nicht nur Putin und Trump bedrohen Deutschland, sondern auch die wachsende Ungleichheit, sagt Adam Tooze. Der CDU wirft er Finanzpopulismus vor.
taz: Herr Tooze, als CDU und SPD das 500-Milliarden-Sondervermögen und eine Ausnahme der Schuldenbremse für Rüstung angekündigt haben, waren viele Ökonomen begeistert. Sie auch?
Adam Tooze: Ich hatte ein zwiespältiges Gefühl. Die CDU-SPD-Regelung ist ja so ungefähr in der richtigen Größenordnung. Und es ist gut, nicht in Panik zu geraten, wenn der deutsche Schuldenstand von aktuell 60 Prozent des BIP auf 80 Prozent steigt. Aber je mehr ich über die politische Dimension nachdachte, desto mehr war ich entsetzt.
taz: Warum?
Tooze: Weil hier ganz bewusst das Wahlergebnis vom 23. Februar umgangen wird. CDU und SPD wollen die Grundlage einer neuen Regierung schaffen. Auch die CDU wusste eigentlich von vornherein, dass das nur durch das Aufheben der Schuldenbremse geht. Natürlich haben die neuen Nachrichten aus Washington das Tempo und die Krisenwahrnehmung verstärkt. Aber im Grunde war schon seit Jahren klar, dass eine neue Regierung das braucht. Jetzt drücken sie das noch im alten Bundestag durch. Dadurch müssen sie nicht mit den Linken verhandeln, und sie haben angenommen, dass die Grünen so erpressbar sind, dass sie ihre Stimmen aus dem alten Bundestag für dieses Manöver hergeben. Das ist einfach zynisch!
taz: Sie fordern doch seit Jahren eine Reform der Schuldenbremse.
Tooze: Ich habe die Schuldenbremse immer als Angst vor der eigenen fiskalpolitischen Freiheit kritisiert. Dadurch hat es eine besondere Tragik, dass jetzt die Selbstbeschränkung der deutschen Demokratie auf diese Weise gelockert wird. Das ist keine Bejahung der Demokratie, sondern ihre Umgehung.
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taz: Ist eine Reform der Schuldenbremse denn derzeit aber nicht so drängend, dass so ein pragmatischer Weg besser ist, als ewig im neuen Bundestag zu verhandeln?
Tooze: Nein. Es war schon vor Jahren drängend. Es ist wirklich zynisch, zu sagen, aufgrund der Ereignisse der letzten paar Wochen müsse das jetzt so schnell gehen. CDU und CSU haben nun auf dem Papier anerkannt, dass die Schuldenbremse nicht stehen kann. Das steht im Widerspruch zu ihren eigenen Wahlversprechen. Das muss für ihre Wählerschaft schockierend sein, das sieht man ja aktuell bei der Jungen Union. Im Grunde haben sie mit Fake News Wahlkampf betrieben, obwohl alle in Berliner Kreisen im Bilde waren, dass es ohne Schuldenbremsen-Reform nicht geht.
taz: Sie haben CDU und FDP mal Finanzpopulismus vorgeworfen.
Tooze: Diese Parteien haben ihrer Wählerschaft versprochen, dass es so weitergehen kann, wie es ist, und dass der Konservatismus in dieser verblödeten Form tragfähig ist. Und jetzt sollen die Grünen ihnen die Stimmen dafür geben, dass die Leute vom einen auf den anderen Tag in eine andere Welt kommen, wo Schulden plötzlich okay sind, ohne dass die CDU ihrer Wählerschaft erklären und vermitteln muss, warum das jetzt nötig war.
taz: Das Ergebnis wäre aber doch gut, 500 Milliarden Euro sind viel Geld.
Tooze: Politik ist keine Nebensache, die man im Notfall überrollt. Da bin ich in einer anderen Position als meine Kollegen im Ökonomenkreis, die sich diebisch freuen, dass sie jetzt Politikberatung hinbekommen haben. Es heißt ja, dass wir die Demokratie verteidigen gegen Trump, gegen Putin in der Ukraine. Zu Hause dann mit der Demokratie so leichtfertig umzugehen, führt zur Frage: Meinen CDU und SPD es wirklich ernst mit den Investitionen oder war das im Grunde nur eine Verpackung für eine konservative Sicherheitspolitik?
taz: Für die Grünen bietet der Zeitdruck aber die Chance, angemessene Finanzierung für Klimaschutz zu sichern.
Tooze: Man würde doch hoffen, dass eine Ausnahme in die Schuldenbremse hineinverhandelt wird, sodass Deutschland Neben der Aufrüstung auch entsprechende Summen in die Energiewende investieren kann. Was sind denn die tatsächlichen Bedrohungen für die Sicherheit Deutschlands? Putin, klar, Abhängigkeit von Amerika, klar. Aber darüber hinaus muss man doch Klimakatastrophen mitdenken, und Geld für die Migrationsfrage. Auch Kinderarmut ist im Grunde für die deutsche Gesellschaft bedrohlich. Deswegen müssten Investitionen in die Sozialpolitik ebenfalls von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Denn die Ungleichheit ist für die deutsche Gesellschaft mittlerweile ein absolutes Kernproblem.
taz: Könnte man bei so vielen Ausnahmen die Schuldenbremse nicht gleich als Ganzes lockern?
Tooze: Das ist im Grunde die einzige vernünftige Regelung und einer der Gründe, warum ich gegenüber diesem Manöver so skeptisch bin. Denn was die Linke bei einer Reform im neuen Bundestag mitmachen würde, ist ja eine allgemeine Lockerung.
taz: Wenn die 500 Milliarden tatsächlich für Investitionen in die deutsche Infrastruktur ausgegeben werden, rechnen Ökonom*innen mit hohem Wirtschaftswachstum. Aber in den USA haben wir 2024 gesehen, dass trotz sehr gut laufender Wirtschaft Rechtsextreme gewählt wurden. Ist Wachstum also nicht automatisch gut für die Demokratie?
Tooze: Wachstum heißt Veränderung. Und die verläuft natürlich entlang der Linien der Machtungleichheit. Das führt zum Beispiel zu Gentrifizierung, wo Wachstums-Hotspots entstehen. Es könnte sein, dass das Wachstum soziale Spannungen verstärkt. Und das wäre ein Problem. Die Hoffnung ist natürlich, dass der Kuchen wächst. Die Spannungen sind immer noch da, aber der Kuchen ist größer, sodass es allen besser geht.
taz: Von einer Lockerung der Schuldenbremse würde die Rüstungsindustrie profitieren.
Tooze: Das ist natürlich nicht demokratiefördernd. Die Rüstungsindustrie wird sich einfressen in den Staat, wie die Agrarlobby. Deren Einfluss sieht man ja am Agrardieselrabatt im Sondierungspapier. Das ist eine demokratische Entgleisung. Auf so was muss man Antworten finden.
taz: Würden Sie sagen, eine gut laufende Wirtschaft schwächt automatisch demokratiefeindliche Kräfte wie die AfD?
Tooze: In den USA beobachten wir, dass die Kausalität nicht von der Ökonomie zur politischen Einstellung läuft, sondern umgekehrt. Wenn man erst einmal republikanisch oder demokratisch drauf ist, sieht man die Wirtschaftslage anders. Die Leute ändern ihre Einschätzung der Inflation von einer Woche auf die andere, abhängig davon, wer jetzt im Weißen Haus sitzt. Zu sagen, die Leute werden verstehen, dass es ihnen besser geht, und dann werden sie für die Parteien stimmen, die ihnen diese Wohltaten gebracht haben – das funktioniert nicht.
taz: Also kann es sein, dass eine progressive Wirtschaftspolitik letztendlich gar nichts bringt?
Tooze: Ja, aber ich würde trotzdem sehr stark dafür plädieren. Nicht, weil ich mir verspreche, dass sich irgendwelche Rassisten oder Protestwähler durch eine gelungene Industriepolitik oder höhere Sozialausgaben umstimmen lassen. Die Leute verhalten sich aus meiner Perspektive unvernünftig und verwerflich, wenn sie AfD wählen. Aber wir können ein vernünftiges Angebot machen, und das sollten wir auch tun. Als Progressive leben wir nach dem Prinzip, dass die Rationalität, in die Politik hineingetragen, eine bessere Welt schaffen kann. Wir können nicht davon abweichen, weil wir feststellen, dass die Leute spinnen. Wir müssen weitermachen und überzeugen. Die Verwirklichung einer progressiven Investitionspolitik – also der Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit der Schuldenbremse – ist für die Demokratie gut, weil sie ein Vernunftsbeweis ist.
taz: Sie haben vor wenigen Wochen das Wirtschaftsmagazin Surplus mitgegründet. Warum?
Tooze: Es geht darum, Raum für Debatten zu schaffen, zum Beispiel darüber, wie sich die Demokratie mit demokratischen Mitteln verteidigen lässt. Nicht weil wir meinen, dass wir die Lösung haben oder uns überall einig sind, sondern weil die Republik eine solche Diskussion braucht. Man muss nicht Marxist sein, um zu glauben, dass die politische Ökonomie im Zentrum einer emanzipatorischen Politik stehen muss. Sei es bei der Umweltfrage, beim Feminismus oder Rassismus. Sie ist immer präsent.
taz: Sie sind zwar in Deutschland aufgewachsen, aber in London geboren und leben in New York. Warum beteiligen Sie sich immer wieder an den hiesigen Debatten, statt zum Beispiel in Frankreich oder Großbritannien?
Tooze: Es waren wirklich die prägenden Jahre meines Lebens hier in der alten Bundesrepublik und in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Ich war bis Mitte der Neunziger Jahre in Berlin und habe die Stadt jetzt als Heimatort wiederentdeckt. Der andere Grund ist die Relevanz Deutschlands. Das ist das Paradoxe an dieser Situation: Es fehlt hier an der nötigen Analyse, aber auf der anderen Seite ist Deutschland der unerlässliche Player schlechthin im europäischen System. Nicht umsonst haben alle europäischen Thinktanks jetzt eine Vertretung in Berlin. Berlin ist in gewisser Weise die heimliche Hauptstadt Europas.
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