Unistadt Chemnitz: Wo bleiben die Wessis?
In Deutschland wird immer mehr studiert, doch die drittgrößte Universität Sachsens verliert Studierende. Auf der Suche nach den Gründen.
Chemnitz taz | „Lass dich da nicht von den Nazis verkloppen“ und „Oha, aber du studierst da dann nicht wirklich, oder?“ hörte Johannes von seinen Bekannten, als er sich 2022 für die Technische Universität (TU) Chemnitz entschied. Der 31-Jährige studierte vorher in Frankfurt am Main. Eigentlich scheint die TU Chemnitz eine gute Wahl zu sein. Die drittgrößte Universität in Sachsen belegt den dritten Platz der beliebtesten Universitäten in Deutschland. Die Hochschule gibt sich weltoffen und hat einen der höchsten Anteile an ausländischen Studierenden bundesweit.
Doch seit 2015 hat die Universität mehr als ein Viertel ihrer Studierenden verloren. Und das entgegen dem allgemeinen Trend: Die Zahl der Studierenden in Deutschland stieg insgesamt. Woran liegt das?
Laut dem Statistischen Landesamt Sachsen hat sich die Zahl der Studienanfänger in Chemnitz sogar halbiert. Besonders auffällig ist der Rückgang der Studienanfänger aus westdeutschen Bundesländern seit 2014 um drei Viertel. Auch andere sächsische Hochschulen verzeichnen Rückgänge, jedoch nicht so stark wie in Chemnitz.
Zwei Ereignisse könnten diese Entwicklung erklären: Ende 2014 und Anfang 2015 entstand Pegida im Osten. Wieder berichteten Medien über Ostdeutschland im Zusammenhang mit Rassismus und Rechtsextremismus. Begriffe wie „Dunkeldeutschland“ und „brauner Osten“ tauchten erneut auf. Der Ruf des Ostens verschlechterte sich. Der Anteil westdeutscher Studienanfänger in Chemnitz sank von 2014 auf 2015 um ein Viertel auf 11,5 Prozent. In ganz Sachsen ging der Anteil um ein Zehntel zurück.
Ausschreitungen 2018 führten zu Rückgang
Im August und September 2018 kam es in Chemnitz zu rechtsextremen Ausschreitungen. Nach dem tödlichen Messerangriff auf Daniel H. – mutmaßlich von drei Asylbewerbern – gab es tagelange Demonstrationen in der Stadt.
Die Stimmung war erhitzt. Zeitungen schrieben von der Aufgabe des Rechtsstaates und von Pogromstimmung. Die Zahl der Erstsemester aus den alten Bundesländern fiel um mehr als ein Drittel auf 7 Prozent. Seitdem ist die Zahl der Studienanfänger aus den alten Bundesländern noch etwas gesunken.
Mario Steinebach, Pressesprecher der TU Chemnitz, erklärt, dass die Zahlen des Statistischen Landesamts Studierende, die zuerst woanders studierten und für den Master nach Chemnitz kommen, nicht berücksichtigen. Der Anteil der Studienanfänger aus den alten Bundesländern liege bei 13 Prozent und sei im Durchschnitt der letzten zehn Jahre nur leicht zurückgegangen.
Es fehlt an Geld
Die sinkenden Studierendenzahlen stellen die Universität vor finanzielle Probleme: In einer internen Mitteilung über den Haushalt 2024/25 wird auf ein drohendes Haushaltsdefizit hingewiesen und dass Stellen nicht mehr nachbesetzt werden. Wegen gesunkener Studierendenzahlen könnten 2,2 Millionen Euro aus einer Zielvereinbarung nicht ausgezahlt werden.
Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Westdeutsche Studierende äußern Mitleid mit der Universität. Der 27-jährige Marvin aus Metzingen sagt: „Ich verteidige die Uni, weil sie einen sehr guten Job macht. Sie leidet unter dem schlechten Ruf von Chemnitz.“ Valerie vom Bodensee, die in Chemnitz ihren Master in Psychologie macht, berichtet: „Ich habe die Verwaltung und das Lehrpersonal immer als sehr entgegenkommend erlebt.“ Die 26-Jährige habe an ihrer letzten Universität in Würzburg andere Erfahrungen gemacht.
Beide kamen 2022 nach Chemnitz und berichten, dass die TU nicht ihre erste Wahl war. Valerie witzelte zur Bewerbungsphase, dass sie am Ende in Chemnitz landen könnte, freundete sich aber schnell mit der Stadt an. „Ich habe noch nie so viele kulturelle Angebote besucht wie hier.“
Sie erzählt, dass Freunde und Bekannte nicht immer positiv reagierten: „Da sind ja nur Nazis“ und „Wegen der politischen Lage würde ich da nie hingehen“. Auch sie war erschrocken über das Ergebnis der Europawahl und kann verstehen, dass Leute denken, es sei schwierig, hier zu leben. Manche Reaktionen wie „Dann bauen wir die Mauer wieder auf“ machen sie wütend.
Im Vergleich zum Umland eher links
Marvin hatte keinen guten Start. Als er am ersten Abend in der Innenstadt joggen ging, kam ihm die 250.000-Einwohner-Stadt menschenleer und wie eine Geisterstadt vor. „Das liegt sicher auch an der Altersstruktur, weil die Stadt so alt ist.“ Für ihn war das Masterstudium in Data Science in Chemnitz ein Abenteuer. Niemand aus seinem Freundeskreis war vorher in Ostdeutschland gewesen. Viele wussten nicht mal, wo Chemnitz liegt, man wusste zwar: im Osten, jedoch nicht, ob es in Sachsen liegt.
Johannes findet es inzwischen schön hier und verteidigt die Stadt gegen Vorurteile. „Das entspricht nicht meiner Erfahrung.“ Es gebe viele Projekte und Initiativen. Selbst seine Schwester aus Berlin war überrascht, als sie ihn besuchte. „Man muss erst hier gewesen sein, um zu urteilen.“ Chemnitz sei im Vergleich zum Umland eher links, der Oberbürgermeister ist Sozialdemokrat.
Er kritisiert jedoch die schlechte juristische Aufarbeitung der Ausschreitungen von 2018. Mehr als fünf Jahre nach dem Messerangriff läuft am Landgericht Chemnitz die juristische Aufarbeitung des Geschehens weiter. Solche Nachrichten könnten Studienanfänger abschrecken, glaubt Johannes.
Johannes Fromm, 25, aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, ist für das Studium nach Chemnitz gezogen.
FOTO: Tim Gassauer, 27, aufgewachsen in Thüringen, lebt und arbeitet als Fotograf zwischen Berlin und Chemnitz.
Leser*innenkommentare
vieldenker
Eigentlich müssten junge demokratisch gesinnte Menwchen gerade da hin gehen und bleiben. Und am besten zahlreich ins Umland siedeln. Immer mit dem Hinweis an die Einheimischen, dass man trotz der rückwärtsgewandten Rechtsfaschisten an eine demokratische, weltoffene Zukunft glaubt. Irgendwann hat sich das Biosachsenthema dann von ganz alleine erledigt.
TaAl
Ich habe mich Ende der 90ger Jahre aus W-Berlin über die ZVS auf einen Studienplatz in Ilmenau beworben, weil ich einen Artikel über die Universität, die Stadt und den betreffenden Studiengang gelesen hatte. Leider wurde mir der Wunschort nicht erfüllt. Rückwirkend betrachtet bin ich der Überzeugung, dass die damalige Studienvergabe-Praxis aus dem Westen zum Fortbestehen der Teilung weiter beigetragen hat.
Es wurden damals West-ProfessorInnen mit viel Geld animiert an Ost-Universitäten zu lehren, ohne jedoch auch an die Jugend zu denken. Die wurde animiert im Westen zu studieren. Die einzigen Ausnahmen bildete damals die Viadrina in Frankfurt O. Jedoch leider nicht mit einem breiten Themenangebot. Und Potsdam.
Meiner Meinung nach muss ein neues „Aufbau-Ost“-Programm vom Bund aufgesetzt werden, dass nicht nur einfach Geld reinpumpt, sondern verstärkt Junge Menschen gezielt auch in die dünn besiedelten Landstriche lockt und ihnen auch Sicherheit garantiert.
Aurego
Es wäre ganz einfach: Chemnitz muss genügend NC-Studiengänge anbieten, dann können viele StudentInnen gar nicht anders, als sich in Chemnitz einzuschreiben.
Allerdings stimme ich dem generellen Eindruck zu: Chemnitz muss lebendiger werden, besonders abends und am Wochenende. Es muss mehr Clubs, mehr Kultur, mehr Sporteinrichtungen, mehr Begegnungsorte geben, die für junge Leute interessant sind. Und natürlich müssen dafür erst einmal viel mehr junge Leute nach Chemnitz kommen. Groß genug ist Chemnitz dafür ja.
Šarru-kīnu
Die Uni in Chemnitz hatte in 2016 einen NC für viele Fächer eingeführt um die Studierendenzahlen zu senken, da die Uni zu viele Bewerber anzog. Daraufhin brachen die Zahlen massiv ein. Jetzt wird versucht gegenzusteuern und der NC wurde wieder abgeschafft. Passt das nicht ins Narrativ über den wilden Osten?
Bei den Hetzjagden von Chemnitz gibt es weiterhin keinerlei Verurteilungen. Der letzte Prozess wurde gerade mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Das wirft langsam dann aber auch Fragen zur medialen Kampagne wegen eines YouTube Videos auf.
Joe Raecher
Was nützt ein weltoffener Campus, wenn der Rest des Landes faschistisch ist?
Ne, unsere Kinder gehen in Westdeutschland auf die Uni. Sollen Chemnitz mal mit den Elite-Bio-Deutschen mal vollmachen.
Minion68
@Joe Raecher Ich empfehle mal, pauschale Urteile zu unterlassen.
Ich habe es ja schon mal in einem anderen Forum geschrieben: Es gibt in der Zivilgesellschaft in Sachsen, Thüringen und anderswo genug engagierte Menschen, die oft genug deutlich gemacht haben, dass Rechtsextremismus konsequent bekämpft werden muss, und dass resourcen- und umweltschonendes Wirtschaften sowie soziale Absicherung unheimlich wichtige, zukunftssichernde, Themen sind, die dringend angegangen werden müssen. Und das gilt auch für Chemnitz.