Sturz des Assad-Regimes: Freut euch über Syrien!
Große Teile der hiesigen Öffentlichkeit begegnen der syrischen Revolution mit massiven Vorbehalten. Wo bleibt die Begeisterung?
L enin soll einst gesagt haben, eine Revolution in Deutschland sei unmöglich, weil die Deutschen erst eine Bahnsteigkarte kaufen, bevor sie einen Bahnhof stürmen. Gut 100 Jahre später gibt es in Deutschland gar keine Bahnsteigkarten mehr und die Deutschen erkennen eine Revolution nicht einmal, wenn sie in Echtzeit auf ihren Smartphones zugucken. Die syrische Revolution, also der Sturz des faschistischen Assad-Regimes durch Rebellen unter dem Jubel der Bevölkerung, ist das schönste Ereignis des unschönen Jahres 2024, aber der deutsche Blick darauf ist vor allem von Negativität geprägt.
„Dschihadistische Milizen“ hießen die syrischen Rebellen von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) zu Beginn ihres Feldzuges tagelang in allen großen deutschen Medien. „Islamisten stürzen Syriens Diktator – Einheiten der Terrormiliz HTS kontrollieren die Hauptstadt“ titelte zu Ende ihres Feldzuges die Süddeutsche Zeitung, Deutschlands auflagenstärkstes überregionales Qualitätsblatt. „Wer kommt nach Assad? In Syrien herrscht Chaos“, schreibt eine Woche später die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Der Spiegel titelt „Das syrische Experiment“, die Zeit fragt: „Wie lange hält der Jubel?“.
Und das ist nur der vermeintlich aufgeklärte Mainstream. Am politischen Rand sieht es ganz finster aus. „Gelegenheit macht Diebe: Kommt nun der Asyl-Pendelverkehr zwischen Syrien und Deutschland?“, fragt die neurechte Junge Freiheit, „Westen sucht Kontrolle“ und „Werben um Dschihadisten“ konstatiert die vermeintlich linke Junge Welt.
Bloß nicht freuen, bloß nichts Positives sehen: Das ist der gemeinsame Unterton. Begeisterung? Um Gottes willen, es sind doch Araber und Muslime, seit dem 7. Oktober 2023 weiß man da Bescheid. Es wird geraunt und sich gefürchtet, HTS wird mit dem „Islamischen Staat“ verwechselt, Fake News machen die Runde, die syrische Revolution wird im gleichen Atemzug als dschihadistische Machtergreifung und als zionistisches Komplott verunglimpft.
Die Rebellen richten gar kein islamistisches Terrorregime ein? Sie „geben sich gemäßigt“, heißt es dann. Christen können sich frei betätigen? Na ja, man weiß aber nicht, was kommt. Kurden werden von protürkischen Milizen angegriffen? Da sieht man doch, wo das alles hinführt. Syrer, die in Deutschland feiern? Raus!
„Islamisten“ sind bekanntlich die Bösen, sie wollen einen Gottesstaat, sie herrschen mit Gewalt, man kann ihnen nicht trauen. „Syrische Islamisten“ wurden schließlich schon mehrfach als mutmaßliche Terroristen in Deutschland aufgegriffen. Die HTS ist als Terrororganisation gelistet, es laufen vor deutschen Gerichten Prozesse wegen HTS-Unterstützung.
In der Ungewissheit liegt die Chance
Zur Erinnerung: Das Terrorregime in Syrien war jenes Regime, das gerade gestürzt worden ist. Die HTS hat Syrien befreit – nicht als Terrormiliz, sondern als Türöffner für alle unterdrückten demokratischen Kräfte in Syrien, die überhaupt überlebt haben. Jetzt werden sie alle das Land neu gründen, plural und vielfältig. Und zugleich muss eine Staatsmacht die administrativen Strukturen wiederherstellen und die Weichen für ein auf Dauer freies Syrien stellen.
Natürlich weiß man nicht, wie es weitergeht. Aber genau darin liegt die Chance. Es ist nichts vorbestimmt. Die vielfach genutzte Parallele zum Berliner Mauerfall 1989 liegt genau darin – in dieser Offenheit, die Kräfte freisetzt und Utopien möglich macht.
Dafür muss sich der Rest der Welt massiv engagieren, und zwar nicht zur Wahrung eigener Interessen, wie es die Türkei und Israel gerade tun, sondern mit derselben Begeisterung wie die Menschen in Syrien selbst und mit Begeisterung für diese Menschen.
Die einst gegen Assad verhängten Syrien-Sanktionen müssen fallen. Die geschlossenen Botschaften müssen wieder öffnen, der syrischen Diaspora muss Reisefreiheit gewährt werden, die Verbrecher müssen vor Gericht kommen, der Wiederaufbau muss starten. Es geht nicht nur um den „Schutz von Minderheiten“, wie es mantraartig oft heißt. Es geht um den Schutz des gesamten syrischen Volkes.
Europa darf jetzt nicht abwarten
Dreizehn Jahre lang wurden die Menschen in Syrien gegen einen mörderischen Diktator allein gelassen. Wer dreizehn Jahre lang keinen Finger für sie rührte, aber jetzt bei der ersten Chance auf einen Neuanfang den Zeigefinger hebt, hat die Realität nicht begriffen und verspielt die Zukunft.
Ausgerechnet Europa, einst der rettende Hafen für Millionen Syrer, darf jetzt nicht mit skeptischer Zurückhaltung abwarten. „Assad oder wir verbrennen das Land“ war die Parole der Mordmilizen, die Syrien in Schutt und Asche legten und vor denen Millionen nach Europa flohen. Die Mörder hielten Wort – und sind doch gescheitert. Jetzt gilt es, gemeinsam das verbrannte Land aus der Asche zu heben.
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