Streik der GDL: Wo bleibt die Solidarität?
Wer in Deutschland streikt, erfährt mehr Wut als Solidarität. Tief verwurzelt ist der Neid auf alle, die es wagen, für ihre Forderungen einzutreten.
W er kennt das? Der Job ist entweder unterbezahlt oder stressig und voller Überstunden oder das Klima zwischen Kolleg*innen vergiftet – wenn man richtig Glück hat, geht gleich alles drei zusammen. Ab und zu hört man vom Burn-out als Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts. Wenn man selbst betroffen ist, geht man in Therapie und sucht das Problem bei sich. Kann man machen. Echte Veränderung kann es aber nur geben, wenn Arbeit und Arbeitsbedingungen als etwas Politisches gesehen werden.
Das ist in einem Land wie Deutschland, dem Land des blinden Gehorsams und der protestantischen Arbeitsmentalität, wo der Mindestlohn erst seit ein paar Jahren gilt und nicht für alle, ein Tabubruch. Genau den aber leistet ein Streik. Und genau deshalb regen sich auch alle so darüber auf. Angestellte wollen mehr Geld? Skandal!
Der Streik berührt unsere verdrängten Wünsche. Während wir wie blöde weiterackern, wagen andere das Unverschämte: Arbeitsverweigerung! Das allein ist schon ein mutiges „Fuck you“ an die stetig ratternde Leistungsgesellschaft. Und der Gipfel: Streikende haben Forderungen! Da ist jemand aus dem Hamsterrad gesprungen, und wir laufen weiter. Ist die Wut auf den Streik Neid? Verwirrung darüber, dass es auch anders geht? Nein? Ein bisschen Solidarität wäre dann aber doch angebracht.
Oder aber die eigene Verwöhntheit steht im Weg. Im durchgetakteten Alltag, wo wir uns den Einkauf von unterbezahlten Fahrradkurier*innen bis an die Haustür bringen lassen – man muss ja arbeiten und hat keine Zeit – können wir es nicht fassen, dass hinter Dienstleistungen echte Menschen stecken, die man behandelt, als wären sie Fußabtreter: Immer bereit, nie erschöpft.
Macht man sich bewusst, dass das saubere Treppenhaus, der öffentliche Transport, die medizinische Behandlung nicht von selbst funktionieren, könnte sich die Wut über Streiks auf die wahren Verantwortlichen verlagern: Die schlecht zahlenden Unternehmen – die Bahn, die Vivantes Krankenhäuser oder der Lieferdienst Gorillas. Plötzlich zeigen die Arbeitenden, dass es ohne sie nicht geht. Und Streik ist das kraftvollste aller friedlichen Mittel, Druck auf Politik und Unternehmen auszuüben. Eine Selbstermächtigung. Liebe Streikende, lasst nicht locker!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen