Sexualisierte Gewalt in Deutschland: Kaum Verurteilungen von Tätern

Vergewaltigungen werden selten zur Anzeige gebracht. Und wenn doch, führt es in der Regel nicht zur Verurteilung des Täters. Wo liegt das Problem?

Demonstrierende mit Schildern

„Nein heißt Nein“-Demo vor dem Gerichtsgebäude zur Unterstützung von Gina-Lisa Lohfink, Juni 2016 Foto: Stefanie Loos

Es sollte ein lustiger Abend werden. Im Frühjahr 2013 war Nina Fuchs mit Freun­d:in­nen unterwegs, sie tranken, tanzten in Clubs. Später am Abend lernte sie neue Leute kennen. Dann hören ihre Erinnerungen auf. Sie setzen erst wieder ein, als Fuchs in einem Park liegt, zwei Männer über ihr, ihre Unterhose hängt zwischen ihren Beinen. Sie ist benommen und kann sich nicht wehren.

Am nächsten Tag erstattet sie Anzeige und gibt zu Protokoll: eine Vergewaltigung unter Einfluss von K.-o.-Tropfen. Die Mittel können nicht mehr nachgewiesen, die DNA-Spuren eines Täters jedoch gesichert werden. Die Tat ist mittlerweile über sieben Jahre her, die mutmaßlichen Täter wurden gefasst, doch bis heute gibt es keinen Prozess.

Der Tag: Am 25. November findet der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen statt. Es ist ein weltweiter Aktionstag zur Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt jeder Form gegenüber von Frauen und Mädchen.

Die Entstehungsgeschichte: 1981 riefen lateinamerikanische Frauenrechtlerinnen ein Treffen für die Opfer von Gewalt an Frauen aus. Sie gedachten damals den drei Mirabal-Schwestern auch bekannt als Las Mariposas (die Schmetterlinge). Sie waren Regimegegnerinnen in der Dominikanischen Republik und wurden am 25. November 1960 ermordet. 1999 wurde der 25. November offizieller Aktions- und Gedenktag der Vereinten Nationen.

Dass Vergewaltiger für ihre Taten verurteilt werden, kommt nur in den seltensten Fällen vor. Der Kriminologe Christian Pfeiffer, der seit Jahrzehnten zu diesem Thema forscht, kam bei einer Untersuchung zu einem dramatischen Ergebnis: Von hundert Frauen, die vergewaltigt werden, erlebt nur etwa eine Betroffene die Verurteilung des Täters. So auch Nina Fuchs. Woran liegt es, dass Vergewaltigungen so selten vor Gericht kommen – nicht einmal dann, wenn der Fall so eindeutig zu sein scheint, wie es bei Fuchs war?

Um die von Pfeiffer genannte Zahl nachvollziehen zu können, muss man einen Blick in die Dunkelfeldforschung werfen. Nur 15 Prozent derjenigen, die eine Vergewaltigung erleben, erstatten Anzeige. Das geht aus einer Erhebung von 2011 hervor, mit der auch Pfeiffer seine Aussage begründet. Laut Zahlen des Landeskriminalamts Niedersachsen von 2017 sind es sogar nur 5 Prozent. Aktuelle Zahlen für das gesamte Bundesgebiet liegen nicht vor. Das Bundeskriminalamt will diese mit der bisher größten Dunkelfeldstudie zur Sicherheit in Deutschland im kommenden Jahr liefern.

Scham, Angst und Traumata

Warum Betroffene, im Regelfall Frauen, keine Anzeige erstatten, hat verschiedene Gründe. Vor allem wenn der Täter aus dem Nahbereich stammt, also der (Ex-)Partner, Vater, Freund oder ein Bekannter ist, kommt es selten zu einer Anzeige, sagt Bianca Biwer der taz. Biwer ist Bundesgeschäftsführerin beim Weißen Ring, einem Opferhilfeverein, der seit 40 Jahren Beratung sowie finanzielle, juristische und psychotherapeutische Unterstützung für Betroffene anbietet. „Wenn Frauen ihren Täter gut kennen, sorgen sich manche, sie würden sein Leben zerstören. Doch auch das Schamgefühl hindert viele, eine Anzeige zu erstatten. Und zuletzt muss man festhalten, dass solch ein Verfahren so anspruchsvoll ist, dass nicht alle Betroffenen das leisten können. Ihre Geschichte wieder und wieder erzählen und durchleben zu müssen, kann sehr traumatisierend sein“, sagt sie.

Auch Nina Fuchs wollte keine Anzeige erstatten, es erschien ihr im ersten Moment wie eine nicht überwindbare Hürde, sagt sie. Am nächsten Morgen überzeugte ihre Schwester sie, es doch zu tun. 90 Minuten wurde sie auf der Polizeistation befragt, es folgte eine Tatortbegehung und eine rechtsmedizinische Untersuchung mit Blut- und Urinprobe. „Die untersuchen jeden Millimeter deines Körpers, jede einzelne Körperöffnung und überall werden Proben genommen, es war wirklich unangenehm“, sagt Fuchs. Wunden oder blaue Flecken werden mit einem Millimeterband daneben abfotografiert. Bei Fuchs sind es unter anderem blaue Flecken am Oberarm, die bei einer Vergewaltigung als typische Halteverletzungen gelten.

Wenige Tage später geht Fuchs noch einmal zur Polizei, weil sie in ihrer Tasche eine Sonnenbrille gefunden hat – ein mögliches Beweismittel, denkt sie. Wieder wird sie von einem Polizisten befragt, danach bricht sie zusammen. „Im Nachhinein waren die Befragungen durch die Polizei für mich das Traumatisierendste an dem gesamten Prozess. Ich hatte durchgehend das Gefühl, dass mir nicht geglaubt wird und habe wirklich null Empathie gespürt.“

Auch dem Weißen Ring berichten Betroffene immer wieder von wenig sensiblen Beamten. „Als Zeugin im Verfahren wird deine Glaubwürdigkeit ständig infrage gestellt, das ist eine schwierige Situation. Ich glaube, dass Beamte vielfach einfach noch nicht gut genug geschult sind im Umgang mit traumatisierten Personen“, sagt Biwer. Ignaz Raab, der Leiter des Kommissariats für Sexualdelikte in München, arbeitet seit 17 Jahren mit Betroffenen von Vergewaltigung. Er ist sich bewusst, wie herausfordernd das Verfahren für Betroffene sein kann. „Wir arbeiten so, dass wir den Opfern erst einmal grundsätzlich glauben. Allerdings ist es auch unsere Aufgabe, detailliert nachzufragen und auch mal nach links und rechts zu schauen, ob alles stimmig sein kann“, sagt er. Detaillierte Nachfragen, die Untersuchung und eine Tatortbegehung – all das sei nötig bei den Ermittlungen, so Raab.

Verurteilungsraten sinken

Die Zahl der Anzeigen schwankt über die Jahre hinweg, doch insgesamt lässt sich eine Steigerung feststellen, was auf Gesetzesänderungen zurückzuführen ist: 1997 das Verbot der Vergewaltigung in der Ehe, 2016 das neu eingeführte Sexualstrafrecht „Nein heißt Nein“, aber auch die #MeToo-Bewegung. Die Verurteilungsrate aber sinkt. „In den 90er Jahren lag sie noch bei über 20 Prozent, von 2014 bis 2016 ist sie auf 7,5 Prozent gesunken“, sagt Pfeiffer. Dabei ist die Rate stark bundeslandabhängig: So liege sie in Sachsen bei 21,4 Prozent, in Berlin dagegen bei 3,4 Verurteilten pro 100 Anzeigen.

Fälle von sexualisierter Gewalt stellen Polizei und Justiz vor eine Herausforderung. Im Regelfall steht Aussage gegen Aussage, meist gibt es wenige bis keine Zeugen und Beweismittel. Bei Einsatz von K.-o.-Mitteln gestaltet sich der Prozess noch schwieriger: Betroffene haben Erinnerungslücken, die Mittel sind in der Regel nur sechs bis zwölf Stunden nachweisbar. Verlässliche Studien, wie häufig sie bei Sexualdelikten eingesetzt werden, fehlen. Biwer, Pfeiffer und Raab bestätigten jedoch, dass ihnen Fälle unter Verabreichung von K.-o.-Tropfen bekannt sind, auch wenn Raab sagt, es seien Einzelfälle. Bei Fuchs kam die rechtsmedizinische Untersuchung zu spät, die Mittel konnten nicht nachgewiesen, die Täter nicht ermittelt werden; die Ermittlungsarbeit wurde nach zehn Monaten eingestellt.

Vier Jahre später bekommt Fuchs Post von der Staatsanwaltschaft: Ein möglicher Täter wurde gefunden. Doch auch dieses Ermittlungsverfahren wird nach Monaten wieder eingestellt. Die Staatsanwältin begründet das in einem Schreiben, das der taz vorliegt, mit den Erinnerungslücken der Betroffenen. Fuchs’ Anwalt legt Beschwerde ein – ohne Erfolg. Sie setzen auf ein Kla­ge­er­zwin­gungs­verfahren, doch auch damit gelingt es nicht, einen Prozess zu erkämpfen.

Erstvernehmung mit Kamera

Dass Fälle ohne Prozess eingestellt werden oder dass es in einem Gerichtsverfahren nicht zu einer Verurteilung kommt, führt Pfeiffer auch auf die Arbeit der Polizei zurück. Für eine eventuelle Glaubwürdigkeitsuntersuchung der Betroffenen sei es wichtig, dass die Erstvernehmung nicht schriftlich festgehalten, sondern gefilmt werde. „Unsere Hypothese ist, wer als Staatsanwalt nur eine Kurzfassung liest, wird davon nicht so emotional betroffen wie bei dem zeitlich aufwendigeren Anschauen der Videoaufnahme“, sagt Pfeiffer. Im Video werden Emotionen und Ergriffenheit der Betroffenen stärker sichtbar. Diese Hypothese wird er nun gemeinsam mit Theresia Höynck und Patrik Schmidt von der Universität Kassel sowie der Psychologin Bettina Zietlow in einer Studie untersuchen.

Eine Erstvernehmung der Betroffenen per Videokamera hält auch Biwer für unerlässlich. Damit könnte nicht nur die Glaubwürdigkeit der Betroffenen gesichert werden, sondern es vereinfache auch den Prozess: Das Erlebte müsste nicht wieder und wieder erzählt werden.

Der Einsatz von Videokameras ist in Deutschland noch nicht selbstverständlich. Seit 2019 ist er bei schweren Straftaten zwar erlaubt, doch nicht alle Polizeistationen sind hinreichend technisch ausgestattet und ausgebildet. In welchem Umfang Videovernehmungen bisher eingesetzt werden, ist nicht bekannt, da jede Staatsanwaltschaft selbst entscheidet, welche Vernehmungsart eingesetzt wird. Im Münchner Kommissariat gibt es zwar ein Videovernehmungszimmer und mittlerweile auch mobile Vernehmungstechnik. Bei Sexualdelikten werde die polizeiliche Vernehmung aber noch schriftlich festgehalten, die richterliche Befragung finde dann per Video statt, sagt Raab. Es werde aber daran gearbeitet, alle Dienststellen technisch so auszustatten.

Für Opfer einer Vergewaltigung wäre es ein großer Gewinn, wenn sich dieses Vernehmungsverfahren durchsetzt. Für Nina Fuchs kommt es zu spät. Aufgeben will sie dennoch nicht. Mithilfe einer Petition und einem Crowdfunding schafft sie Aufmerksamkeit für ihren Fall, im Juli hat sie Verfassungsbeschwerde eingereicht. Wenn das scheitert, will sie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. „Mir ist bewusst, dass die Verurteilung des Täters unwahrscheinlich ist, doch es würde mir allein schon helfen, wenn ich nach all den Tränen, der Zeit und Energie, die ich hierein gesteckt habe, einen fairen Prozess bekomme.“

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