SPD-Debatte um Diversität: Teil des großen Wirs
Die SPD debattiert über den Umgang mit queeren Menschen und Migrant*innen. Manchen fällt es schwer, Platz im gemeinsamen Haus freizuräumen.
Seit ich denken kann, ich muss vermutlich fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, verstand ich, dass ich wohl anders war, als die anderen Jungs. Mir blieb nichts anderes übrig, denn die Bekannten und Freunde meiner Eltern haben es immer zu ihrem Thema gemacht. „Man kann dem Jungen nichts sagen, sonst fängt er gleich an zu heulen. Er ist schlimmer als ein Mädchen!“ Und manchmal sagten sie auch „also wenn er läuft, dann ist er dabei so elegant! Genau wie ein Mädchen!“ Der Tenor war immer der gleiche. „Wie ein Mädchen“, „besser als ein Mädchen“, „schlimmer als ein Mädchen.“
Sie sprachen über mich, als würden sie nicht mich sehen, als sei ich nicht anwesend. Und es hörte einfach nicht auf. Das hat tiefe Wunden hinterlassen, die ich viel zu spät wahrgenommen habe und die ich noch heute oft versorgen muss, weil sie immer wieder aufbrechen. Diese Ungewissheit, ob ich als der leben darf, der ich bin, meldet sich immer wieder zu Wort.
Ich bin mit einer liebevollen Mutter aufgewachsen, die jedoch irgendwann die Drohung aussprach, dass, wenn eines ihrer Kinder „eine Schwuchtel werden sollte“, sie sich das Leben nehmen würde. Meine Mutter lebt heute immer noch, doch nach meinem Coming-out wurde ich vor die Tür gesetzt. Die Folgen waren keine Ausbildung, kein Studium, kein Zuhause. Meine Identität wurde also von klein auf infrage gestellt, konstant thematisiert und immer wieder zur Ausgrenzung genutzt.
So geht es vielen in der queeren Community. Fast alle unsere Identitäten haben in ihrem Kern den Schmerz auf irgendeine Weise hineintätowiert bekommen. Auch deswegen engagiere ich mich seit Jahren für queere Menschen weltweit und ja, es beunruhigt mich sehr zu sehen, wie in Russland, Ungarn und Polen, aber auch in Ghana und Uganda und überall sonst, wo meine Leute nicht frei leben dürfen, unsere Identität von der Mehrheitsgesellschaft zum Problem, zur Straftat erklärt wird.
ist Landesvorsitzender der SPDqueer Berlin und im Bundesvorstand des Lesben und Schwulenverbands Deutschlands (LSVD).
Auf die Fresse
Es gibt Menschen, die der Meinung sind, dass wir hier in Deutschland in einem regenbogenfarbenen Paradies leben. Schwule und Lesben dürfen jetzt heiraten – „was wollt ihr eigentlich noch?“ Diese Frage wird uns konstant entgegengeschleudert, als wäre Gleichstellung in unserer Verfassung nicht zum obersten Ziel für unsere Gesellschaft festgeschrieben worden.
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, doch unsere Lebensrealität sieht anders aus. Allein in Berlin bekommen queere Menschen jeden Tag mindestens einmal eins auf die Fresse – egal wo in unserer Stadt, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Im Job outen sich nur wenige, selbst das Gespräch in der Teeküche ist oft ein Problem, wenn die Kollegin von ihrem Wochenende am See mit ihrem Mann erzählt, aber der Kollege sich eine Geschichte einfallen lässt, um nicht zu sagen, dass er mit seinem Partner eine Radtour gemacht hat.
Und oft, wenn man sich traut, wenn man doch vom schönen Wochenende mit dem neuen Freund spricht, kommt dann der nicht ausgesprochene Vorwurf, dass die Homos wieder jedem ungefragt ihre Sexualität auf die Nase binden wollen. Bei diesen Erzählungen geht es aber nicht um sexuelle Praktiken, nicht darum, wer mit wem wie Sex hat, sondern es geht um das Begehren und manchmal auch um die Liebe. Ist das so schwer zu verstehen, verdammt nochmal?
Der Schmerz und die Wunden, die unserer Identität zugefügt wurden, verhindern oft einen offenen, unbeschwerten, selbstverständlichen Umgang mit unserer Liebe. Diesen Schmerz und diese Wunden zu verstehen sollte auch Aufgabe derjenigen sein, die diesen Schmerz nie am eigenen Leib und nie an der eigenen Seele gespürt haben.
Was hat Empathie mit „Identitätspolitik“ zu tun?
Einbinden, zuhören, verstehen – und Platz schaffen für jede Identität: Nur das hilft nachhaltig. Seit wann aber haben Solidarität und Empathie etwas mit „Identitätspolitik“ zu tun? Die sozialen Fragen unserer Zeit lassen sich jedenfalls nicht mit der Frage nach dem „Was denn noch?“ lösen.
Als Sohn von Gastarbeitern weiß ich genau, wie schwer es war, alle davon zu überzeugen, mehr draufzuhaben als das, was die Hauptschule für mich bereit hielt. Ich erinnere mich gut an den Schmerz meiner Eltern, wenn sie nach der Arbeit weinend am Küchentisch saßen, weil sie am Fließband wieder als Spaghettifresser beschimpft wurden. Oder wie schwer es war zu akzeptieren, als uns die Wohnung verwehrt wurde, weil Italiener angeblich zu viele Bambini hätten und anscheinend zu laut und zu kriminell seien.
Wir Menschen mit Migrationsgeschichte leben hier in Deutschland heute bereits oft in der 4. oder 5. Generation – und dennoch wird unsere Forderung nach vollständiger Teilhabe oft als zu aggressiv und nervend empfunden. Es mag weh tun sich von ausgrenzenden Mustern zu verabschieden. Es ist anstrengend, Platz im eigenen Haus freizuräumen, damit sich die Mitbewohner*innen zu Hause fühlen können. Doch wir können niemandem diesen Prozess ersparen, wenn wir wirklich eine vielfältige, offene und plurale Gesellschaft werden wollen.
Noch heute fehlen oft die öffentlichen Vorbilder, die jedem Kind mit auf dem Weg geben, dass es all das aus dem eigenen Leben machen darf, was es will. Wo sind die migrantischen Vorbilder in der Verwaltung, wo die queeren Vorbilder im Sport und die Frauen, die Mütter in Vorständen und Aufsichtsräten?
Problem der Mehrheitsgesellschaft
Wenn queere Schauspieler*innen heute immer noch nicht mit den eigenen Lebenspartner*innen auf dem roten Teppich für das Foto in der Boulevardpresse posieren, wenn sie bei einer Filmpreisverleihung nicht nebeneinander und händchenhaltend sitzen, weil sie sonst die Gefahr verspüren, dass sie nie mehr wieder diese Rolle angeboten bekommen werden, für die sie gleich ausgezeichnet werden, dann ist das ein Problem der Mehrheitsgesellschaft. Der selbstverständliche Umgang von Hetero-Paaren mit ihrer sexuellen Identität sollte kein Privileg dieser Mehrheit bleiben.
Wenn Mann und Frau Hand in Hand auf den Straßen ihrer Innenstädte spazieren, dann denken sie zuerst und immer an die Liebe. Wenn zwei Männer oder zwei Frauen verliebt Hand in Hand durch die Stadt laufen, dann denken sie zuerst oft an die Angst. An die Angst angerempelt, angegriffen, beleidigt, angespuckt und geschlagen zu werden. Diese Ungerechtigkeit muss ein Ende haben.
Selbstverständlich werden wir queere Menschen und Menschen mit Migrationsgeschichte bei diesen Themen emotional. Wir sind schließlich aus Fleisch und Blut und nicht aus Holz oder Stein. Wenn Frauen und vermeintliche Minderheiten strukturell so hart ausgegrenzt werden, haben sie einen Anspruch darauf, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen und die Ungerechtigkeiten zu artikulieren, auszusprechen. Nur dadurch werden sie zur Realität der anderen.
Diesen Schmerz, diese Sorgen, diese Gefühle dann von der Mehrheitsgesellschaft um die Ohren gehauen zu bekommen zeigt immer wieder, wie schwer es ist, sich in andere hineinzuversetzen. Und wie wichtig dieser Schritt für alleist.
Für eine moderne Sozialdemokratie
Communities entstehen eben meist erst dadurch, wenn sich deren Mitglieder nirgends gesehen, geschützt und wertgeschätzt fühlen. Sie grenzen sich also nicht selbst aus, sie werden ausgegrenzt. Gesine Schwan und Wolfgang Thierse, beide in der SPD-Grundwertekommission beheimatet, haben in den letzten Wochen durch verschiedene Beiträge in der FAZ, im Deutschlandfunk und in der Süddeutschen eine alte Diskussion angestoßen, wie ich sie persönlich für die heutige, die moderne und zukunftsorientierte Sozialdemokratie für nicht mehr notwendig, für überwunden erachtet hatte. Doch ich hatte mich getäuscht. Gut, dass wir nochmal darüber reden.
Beide beklagen die Vehemenz, mit der Minderheiten ihren gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft einfordern. Gesine Schwan stellte sogar die Frage auf „Gibt es überhaupt eine normale unverzichtbare Verschiedenheit und dagegen ‚unnormale‘ inakzeptable Verschiedenheiten? Oder ist alles, was anders ist, gleich gut oder zu akzeptieren?“ Diese tradierte Überlegenheit, diesen Anspruch auf Deutungshoheit und diese Macht, andere in gut und böse, in normal und unnormal, in richtig und falsch einzuteilen, gilt es zum Wohle aller endgültig zu überwinden.
Denn dieses Streben nach Akzeptanz, Daseinsberechtigung und Partizipation ist keine Ideologie, sondern Politik – eine des Respekts. Wir erheben heute also unsere Häupter, wir erheben unsere Stimmen und bringen diese gesellschaftspolitisch ein – in Vereinen, Initiativen und auch in der Politik.
Wir werden unseren Platz weiter einfordern, weil auch wir Teil des großen Wirs sind. Genau deswegen setze ich mich mit vielen anderen seit Jahren auf verschiedenen Ebenen dafür ein, dass sich die Situation endlich bessert. Damit kein Kind mehr von der eigenen Mutter je die Drohung erhält, dass sie sich das Leben nehmen wird, nur weil das eigene Kind so ist, wie es ist. Denn wer will schon in einer solchen Welt leben?
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