Psychologie der Vegan-Wut: Die paradoxe Fleischeslust
Nicht wenige Fleischesser reagieren gereizt auf eine vegane Lebensweise. Das hat einen psychologischen Grund: das Meat-Paradox.
Z u meiner großen Freude ist das Thema Veganismus so aktuell wie nie! Immer mehr Menschen sind offen für eine Umstellung auf pflanzliche Ernährung, allein in Deutschland meldeten sich im Januar fast eine halbe Million zur Veganuary-Kampagne an, von denen bestimmt der eine und die andere drangeblieben ist. Super!
Mit der Popularität steigt allerdings auch die Vegan-Wut vieler Fleischesser, die auch ich in den Online-Kommentaren zu dieser Kolumne hin und wieder erfahre. Am meisten gehasst werden dabei Veganer, die aus ethischen Gründen auf Tierprodukte verzichten – was in Anbetracht dessen, dass ein Großteil unserer Gesellschaft gerne weniger Grausamkeit in der Welt sehen würde, schon komisch ist. Oder?
Gar nicht, sagt der US-amerikanische Psychologieprofessor Hank Rothgerber. Denn der Grund für diese Veganophobie sei das sogenannte „Meat-Paradox“. Also die kognitive Dissonanz, die Fleischesser erleben, wenn sie ihre Ernährung und ihre Tierliebe in Einklang bringen müssen. Denn wenn wir im Kopf zwei miteinander unvereinbare Ansichten tragen und eine davon ausleben, verursacht das Stress.
Nun kennt unser Gehirn einige Tricks, um uns vor diesem Stress zu schützen. Das habe ich selber erlebt. Früher, erster Trick, war ich eine Meisterin im Komplettignorieren der Realität der Fleisch- und Milchproduktion. Auf meinen Wurstverpackungen waren schließlich Bilder von grinsenden Schweinen und auf meinen Milchkartons wanderten glückliche Kühe über grüne Bergalmen.
Und, zweiter Trick: Sooo viel Fleisch, sagte ich mir, esse ich ja gar nicht. Ein Leberwurstbrot zum Frühstück, Spaghetti Bolognese zu Mittag und der Salat mit dem bisschen Steak am Abend – fast schon halb vegetarisch.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Blöderweise funktioniert diese Gedankentrickserei nicht mehr, wenn man direkt mit veganer Lebensweise konfrontiert wird. Dann knallt einem das „Meat-Paradox“ wieder voll gegen den Kopf. Man fühlt sich verurteilt, das stresst und macht wütend. Und wer ist schuld an der Wut? Die blöden Besseresser, auf die man seine schlechten Gefühle ablädt. So löst man das Dilemma im Kopf auf, statt das eigene Verhalten zu ändern und den Fleischkonsum zu reduzieren. Ging mir auch so.
Heute weiß ich, dass es im Zweifel besser ist, für etwas zu sein, anstatt dagegen. Für die Tiere. Für die Umwelt. Für soziale Gerechtigkeit. Für superleckeres pflanzliches Essen. Dann springt der Funke schneller über und ermöglicht ein Gespräch miteinander. Und wer weiß, vielleicht sind es 2021 in Deutschland ja schon eine Million, die es im Januar mal mit vegan versuchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“