Proteste von Jugendlichen in Frankreich: Sie haben keine Wahl

Die Proteste in Frankreich reagieren auf die Polizei, die einen 17-Jährigen erschoss. Sie sind für Jugendliche der einzige Weg, gehört zu werden.

Die Silhuette einer Person vor den Flammen einer brennenden Barrikade

Kämpft für „ur-französische“ Ideale: Mann umgeben vor brennenden Barrikaden am 30. Juni 2023 in Paris Foto: Juan Medina/reuters

Seitdem der 17-jährige Nahel in Nanterre von einem Polizisten kaltblütig erschossen wurde, brennt es in Frankreich. Dort, wo die rassifizierte Arbeiterklasse vom Staat auf Ewigkeiten geparkt und von seiner Polizei unterdrückt wird, lassen vor allem Jugendliche ihrem Frust freien Lauf. Das Video, das den Mord an Nahel zeigt, wurde längst von Bildern der Zerstörung abgelöst: eine ausgebrannte Tram nach Protesten in Bordeaux, demolierte Glasfassaden in Marseille.

Insbesondere viele deutsche Kor­re­spon­den­t*in­nen zeigen sich schockiert über die Ausmaße des Protests. Die De­mons­tran­t*in­nen werden zur Ruhe aufgerufen. Sie würden mit den Randalen nur ihr eigenes Eigentum zerstören, heißt es.

Diesem eingeübten Blick von außen – manchmal vom Homeoffice mit Aussicht auf die restaurierte Kathedrale von Notre-Dame aus – liegt ein grundsätzliches Missverstehen des historisch gewachsenen Kastensystems in Frankreich zugrunde. Die Bilder der brennenden Autos, der Feuerwerkskörper, die auf die Staatsmacht abgefeuert werden, wirken wie eine fragile Lebensversicherung für die rassifizierte Jugend Frankreichs.

Auch in anderen Ländern mussten in den vergangenen Jahren Polizeiwachen in Flammen aufgehen, damit die Schwächsten eine Überlebenschance bekommen. Diesen Zusammenhang zwischen Mobilisierung und Selbstschutz verstehen nur die wenigsten.

Rein analytisch und aus der Perspektive der De­mons­tran­t*in­nen betrachtet: Paris muss brennen, damit sich zumindest kurzfristig etwas in Sachen Polizeigewalt im Land tun könnte.

Der Preis für die Morde, die von Po­li­zis­t*in­nen begangen und von der Politik überhaupt ermöglicht werden, muss nach oben getrieben werden. In diesen Tagen erinnern sich viele an das Jahr 2005. Damals starben die beiden Jugendlichen Zyed Benna und Bouna Traoré in Clichy-sous-Bois bei Paris. Sie versteckten sich vor einer rassistischen Polizeikontrolle in einem Elektroverteilerkasten und wurden von Stromschlägen getroffen.

Verbale und physische Dehumanisierung

Es folgten heftige Proteste, die von der Polizei und mit dem Segen einer Mehrheit in Politik und Gesellschaft gewaltsam niedergeschlagen wurden. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy hatte seine Be­am­t*in­nen angestachelt, „den Abschaum“ mit einem „Dampfreiniger“ zu entfernen.

Die Proteste gegen diese verbale und in der Polizeipraxis normalisierte Dehumanisierung entfalteten nach 2005 ihre Wirkung in den Vorstädten: Wir müssen uns im äußersten Fall selbst verteidigen, erkannten damals viele Jugendliche. Ihre jüngeren Geschwister knüpfen an diese Mobilisierungs-Tradition nun an. Sie haben keine Wahl.

In Frankreich hat bisher keine andere Maßnahme gegen Polizeigewalt gewirkt: weder der friedliche Protest mit Schildern und Sprechchören, noch ein geordneter Diskurs, noch die Demokratie selbst. Im Gegenteil. Ein Gesetz aus dem Jahr 2017, das Po­li­zis­t*in­nen erlaubt bei Verkehrskontrollen zu schießen, wurde von einer demokratisch gewählten Regierung verabschiedet und diente als Grundlage für den Polizisten, der Nahel mit einer Maschinenwaffe ermordete.

Die Jugend in den Vorstädten kennt es gar nicht anders: Der französische Zentralstaat, mit allem, was ihn ausmacht, möchte sie kontrollieren, unterdrücken, im äußersten Fall töten. Dagegen hilft nur die Revolte. Und die gehört in Frankreich zum Standardrepertoire der Bürger*innenbeteiligung. Die Jugendlichen, so kann man es auch lesen, erfüllen mit den Randalen eine ur-französische, republikanische Pflicht gegen die unmenschliche Staatsgewalt, die ihre Würde mit Polizeistiefeln tritt.

Egal ob Gelbwesten oder monatelange Streiks: Immer gehen in Frankreich Fensterscheiben zu Bruch, werden Barrikaden errichtet und Autos angezündet. Immer antwortet die Polizei mit noch mehr Gewalt. Doch nur im Fall der Jugendlichen in den Vorstädten wird mit einem derart großen Entsetzen reagiert. Es stellt sich die Frage, ob einige Be­ob­ach­te­r*in­nen hier mit zweierlei Maß messen.

Hauptverantwortlich ist die Polizei selbst

Zumindest ist es mehr als nur weltfremd, auf die Lage in Frankreich eine deutsche Sehnsucht gesellschaftlicher Friedensromantik zu projizieren. Während hierzulande von Rassismus betroffene Menschen zur Grünen Jugend oder den Jusos stoßen, schmeißen Jugendliche in Nanterre und Marseille Pflastersteine, um ihr Leben zu retten. So funktioniert das politische System in Frankreich nun mal.

Ebenfalls rein analytisch betrachtet: Hauptverantwortlich für die brennenden Städte und Vorstädte ist Florian M. Jener Polizist, der Nahel zuerst bedroht und dann in die Brust geschossen hat. Florian M. ist derjenige, der all die Gewalt gegen Sachen verursacht hat. Auf ihn könnte man gut die eigene Empörung umleiten.

Das sollten wir uns als Be­ob­ach­te­r*in­nen stets vergegenwärtigen. Von Lille bis Marseille hat die Polizeigewalt in den vergangenen Nächten also großen Sachschaden angerichtet – der die betroffenen Jugendlichen nachvollziehbar emotional wenig trifft.

Selbst die Idole der Banlieues, so wie der Fußballer Kylian Mbappé, können die Situation derzeit nicht beruhigen, die Jugendlichen nicht erreichen. Mbappé bat in einer Stellungnahme die jungen Demonstrant*innen, keine Gewalt anzuwenden.

„Es ist euer Eigentum, das ihr zerstört, eure Nachbarschaften, eure Städte“, schrieb der Fußballer von Paris Saint-Germain. Nur: Wenn man von der Polizei erschossen wird, hat man von Eigentum, Nachbarschaften und Städten nichts.

Polizei droht mit Gewalt

Das haben die jungen De­mons­tran­t*in­nen verinnerlicht, weil viele von ihnen in bedrohliche Situationen gegenüber der Polizei geraten sind oder mit hoher Wahrscheinlichkeit geraten werden. Viele Eltern verzweifeln in diesen Tagen an ihren eigenen Kindern. 13, 14 oder 16 Jahre alt, lassen sie sich nicht mehr bändigen und bestehen darauf, dem tödlichen Zentralstaat die Stirn zu bieten.

Einige Eltern sollen aus Angst ihrem Nachwuchs Hausarrest auferlegt haben. Um ihre Leben zu schützen, dürften diese Jugendlichen aber nie wieder auf die Straße gehen – zumindest nicht, solange die Polizei in Frankreich im Auftrag von Staat und einem großen Teil der Gesellschaft frei dreht.

Zur Ruhe könnte und müsste daher in diesen Tagen die Polizei selbst gerufen werden – bevor sie noch mehr Sachschaden anrichtet und Menschen tötet. Das Gesetz von 2017 und andere Regelungen müssten zurückgenommen werden, die Sicherheitskräfte in den Vorstädten abrüsten.

Was haben Maschinenpistolen bei Verkehrskontrollen zu suchen? Der Protest könnte Reformen erzwingen. Ein Blick in die Realität ist allerdings mehr als schockierend: Die beiden größten Polizeigewerkschaften des Landes forderten vor wenigen Tagen in einem martialischen Ton auf, „angesichts dieser wilden Horden“ nicht nur um Ruhe zu bitten, sondern sie „durchzusetzen“. Die „Schädlinge“ müssten mit „allen Mitteln“ bekämpft werden.

Das kann nur als Gewaltankündigung verstanden werden und ist der eigentliche Grund für brennende Trams und Autos, für eingeschlagene Scheiben und schockierte Be­ob­ach­te­r*in­nen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.