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Politologin über Altersarmut bei Frauen„Rentensystem auf männlichen Lebensverlauf ausgerichtet“

Frauen bekommen durchschnittlich weniger Rente als Männer. Jutta Schmitz-Kießler kritisiert die geschönten Zahlen und die reformbedürftige Witwenrente.

Fast 50 Prozent aller Frauen arbeiten in Teilzeit: Warum wohl? Foto: Lisa Wikstrand/plainpicture
Jasmin Kalarickal
Interview von Jasmin Kalarickal

taz: Frau Schmitz-Kießler, laut Renten­atlas liegt die Durchschnittsrente bei Männern bei 1.809 Euro im Monat, bei Frauen sind es nur 1.394 Euro. Warum ­reden wir so wenig über diese Ungerechtigkeit?

Schmitz-Kießler: Diese Zahlen schönen sogar das Gesamtbild.

taz: Ach ja?

Schmitz-Kießler: Erstens werden nur diejenigen angeschaut, die 35 Versicherungsjahre vorweisen können. Das trifft aber auf Frauen in der Breite gar nicht so zu. Würde man sie miteinbeziehen, würden sie den Durchschnittswert deutlich nach unten drücken. Zweitens sind in den Zahlen alle Rentner und Rentnerinnen miteingeschlossen. Also die, die schon seit 20 Jahren Rente beziehen, genauso wie die, die jetzt gerade erst in Rente gehen. Auch das verzerrt das Bild.

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Selten sind die Ärmsten so diffamiert worden, selten war der Wohlstand so ungleich verteilt. Die taz begibt sich auf die Suche nach dem sozialen Gewissen des Landes. Alle Texte zum Thema finden Sie hier:

taz: Also bekommen Neurent­ne­r*in­nen noch weniger als die, die schon lange Rente beziehen?

Schmitz-Kießler: Ja. In Westdeutschland liegen die neu zugegangenen Frauenrenten im Schnitt bei 888 Euro und in Ostdeutschland bei 1.200 Euro. Darin sind aber alle eingerechnet, also unabhängig davon, wie lange sie in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Der Unterschied zwischen Ost- und West liegt an der nach wie vor unterschiedlichen Erwerbsbeteiligung von Frauen im Osten und Westen. Allerdings haben sich die ostdeutschen Frauen seit der Wiedervereinigung eher an das Verhalten der westdeutschen Frauen angeglichen und arbeiten inzwischen auch häufig in Teilzeit.

taz: In den letzten Jahren ist die Erwerbsbeteiligung von Frauen stetig gestiegen. Wird das Problem der kleinen Frauenrenten also mit der Zeit geringer werden?

Schmitz-Kießler: Jein. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen steigt zwar. Allerdings arbeiten 48 Prozent aller Frauen in Teilzeit. Teils auch in Minijobs, und da kann man sich von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen. Das machen auch 80 Prozent der Minijobbenden im gewerblichen Bereich. Zudem ist unser Rentensystem ein Spiegelbild des Arbeitsmarktes: Nur wer lange Jahre hohe Beiträge zahlt, erhält eine hohe Rente. Es ist also auf einen typischen männlichen Lebensverlauf ausgerichtet, in dem eine (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit über das gesamte Erwachsenen­leben hinweg ohne Unterbrechungen verfolgt wird. Das erreichen Frauen oft nicht.

Bild: Stephanny Castaneda
Im Interview: Jutta Schmitz-Kießler

ist Professorin für Politikwissenschaft an der Hochschule Bielefeld. Sie forscht und lehrt unter anderem zu den Themen Alterssicherungssysteme, Armut und Erwerbstätigkeit im Rentenalter sowie Frauenerwerbsbeteiligung und Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt.

taz: Im derzeitigen System gibt es eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten, eine Witwenrente und einen Versorgungsausgleich bei Scheidung. All das zielt darauf ab, Nachteile von klassischen Frauenbiografien auszugleichen. Reicht das nicht?

Schmitz-Kießler: Bei Weitem nicht. Ein Beispiel: Pro Kind, das nach 1992 geboren wurde, können drei Jahre als Erziehungszeiten anerkannt werden. Das sind umgerechnet knapp 100 Euro Bruttorente. Aber die Einschränkungen, die durch Kindererziehung entstehen, sind nicht nach drei Jahren behoben. Deswegen bleiben viele Frauen auch danach noch in Teilzeit. Später haben sie dann einen schlechteren Zugang zu Vollzeitarbeitsplätzen, sind häufig in ihrer Karriereentwicklung eingeschränkt und haben schlechtere Stundenlöhne. Das gleicht auch die „Mütterrente“ nicht aus.

taz: Frauen übernehmen viel mehr unbezahlte Sorgearbeit, das Rentensystem basiert aber auf bezahlter Arbeit. Ist das überhaupt ein gerechtes System?

Schmitz-Kießler: Das ist eine berechtigte, aber nicht einfach zu klärende Frage. Natürlich könnten wir überlegen, was notwendig wäre, um Carearbeit besser anzuerkennen. Gleichzeitig dürfen nicht zu große Negativanreize entstehen. Wenn wir beispielsweise 20 Jahre Kindererziehungszeiten fordern würden, dann wäre das sicherlich eine angemessene Anerkennung dieser Leistung, aber würde vermutlich dazu führen, dass sich mehr Frauen vom Arbeitsmarkt fernhalten. Wir müssen deshalb grundsätzlich eine bessere Geschlechtergerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt einfordern. Das umfasst den Zugang zu Führungstätigkeiten oder auch die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern.

taz: Manche würden jetzt sagen: Frauen müssen einfach mehr Vollzeit arbeiten.

Schmitz-Kießler: Natürlich würde man grundsätzlich durch mehr Vollzeitarbeit auch mehr Rentenanwartschaften erwerben. Aber es gibt noch immer keine flächendeckende und zuverlässige Kinderbetreuungsinfrastruktur, die das überhaupt zulassen würde. Frauen wägen meist ihre aktuelle Gesamtsituation ab und in dieser Gemengelage entscheiden sich viele für Teilzeit.

Das hängt nicht unbedingt mit einem Geschlechterbild zusammen, dass sie sich als Frauen insbesondere zuständig fühlen für die Kindererziehung.Außerdem kann man grundsätzlich diskutieren, ob die lebenslange Vollzeiterwerbstätigkeit weiterhin das Ideal sein soll, auf das unser Sozialsystem abstellt.

taz: Wie könnte es besser funktionieren?

Schmitz-Kießler: Ein Erwerbssystem, in dem es üblicher wird, dass beide Geschlechter sich beteiligen – sowohl an der Erwerbstätigkeit als auch an der Kindererziehung –, wäre ein großer Fortschritt. Dafür bräuchte man aber einen neuen Vollzeitstandard, zum Beispiel von 30 Stunden, damit alle gleichermaßen gute Altersvorsorge betreiben können. Daneben ­müssten eine Fülle weiterer System­fehler behoben werden.

taz: Welche?

Schmitz-Kießler: Im Sozial- und Einkommensteuerrecht gibt es eine Reihe von Anreizen, die die Erwerbsarbeit von Frauen begrenzen. Das Ehegattensplittung, die kostenlose Mitversicherung in der Krankenversicherung oder die Aussicht auf eine Witwenrente wirken zunächst für viele attraktiv. Aber beim genauen Hinsehen sind es diese Regelungen nicht. Die Witwenrente beispielsweise liegt bei 55 Prozent und sie wird nur voll ausgezahlt, wenn der Partner oder die Partnerin im Rentenalter verstirbt. Eigene Einkünfte werden über einen Freibetrag angerechnet.

Armut trotz Rente

Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner in Deutschland, die als armutsgefährdet gelten, ist im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes kletterte die Quote bei den ab 65-Jährigen im Vergleich zu 2023 von 18,4 Prozent auf 19,6 Prozent und damit auf einen neuen Rekordwert, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (Montagsausgaben) unter Verweis auf eine Anfrage der Bundestagsgruppe des BSW berichtete.

Der Anstieg um 1,2 Prozentpunkte bedeutet demnach in absoluten Zahlen eine Zunahme um rund 300.000 Menschen auf 3,54 Millionen. Die Steigerung bei den Rentnerinnen und Rentnern sei stärker als in der Gesamtbevölkerung, hieß es weiter.

Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. 2024 lag dieser Schwellenwert laut Statistikamt für einen Alleinlebenden in Deutschland bei 1.378 Euro netto im Monat, für Haushalte mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren betrug er 2.893 Euro. (afp)

Dazu kommt, dass die Witwenrente nur „geerbt“ werden kann, wenn auch geheiratet wird und beide bis zum Tod des „Ernährers“ zusammenbleiben. Die Unsicherheiten, mit denen die Regelungen verbunden sind, liegen auf der Hand.

taz: Im Jahresbericht des Sachverständigenrats 2024/25 steht, dass angesichts der schwierigen Haushaltslage die Witwenrente kritisch hinterfragt werden sollte. Ist das ein frauenfeindlicher Vorschlag?

Schmitz-Kießler: Nein, im Gegen­teil. Ich finde es durchaus attraktiv, darüber nachzudenken, die Witwenrente zu streichen – aber nicht ersatzlos. Ansonsten wäre eine Abschaffung einfach nur ein riesiger Nachteil für Frauen. Selbstverständlich muss an diese Lücke eine Regelung treten, die dazu führt, dass Frauen besser versorgt sind.

taz: Wie könnte die aussehen?

Schmitz-Kießler: Das Familienministerium könnte zum Beispiel in der Phase, in der es Elterngeld zahlt, auch Rentenbeiträge für die entsprechenden Frauen zahlen, sodass da höhere Anwartschaften erworben werden. Oder wenn Frauen im Familienkontext ihre Erwerbstätigkeit einschränken, könnte die Hälfte der Rentenpunkte des Mannes automatisch auf ihr Konto gehen. Wenn solche Regelungen an die Stelle der Witwenrente treten, fände ich das sehr fortschrittlich.

taz: Bei der Rente wird vor allem die Finanzierbarkeit diskutiert. Die Leute werden älter, es kommen weniger junge Leute nach. Wie schauen Sie auf diese Diskussion?

Schmitz-Kießler: Sie ist zu einem überwiegenden Teil von Mythen geprägt. Schon die Rentenreform im Jahr 2000 basierte auf einem prognostizierten Negativszenario, das so nie eingetreten ist.

taz: Aber die Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung wachsen.

Schmitz-Kießler: Das stimmt nur in absoluten Zahlen, aber das gilt für vieles anderes auch – Preise, Löhne, Einnahmen der Rentenversicherung. Und daran muss man auch die Höhe der Bundeszuschüsse messen. Wenn man das macht, haben wir tatsächlich sinkende Bundeszuschüsse. Und das ist ein Problem, weil über diese Bundeszuschüsse nichtbeitragsgedeckte Leistungen finanziert werden. Zum Beispiel Rehabilitation oder die Berücksichtigung für die Kindererziehungszeiten. Genau diese Leistungen sind Stärken, keine Schwächen des Systems.

taz: Das stimmt, aber der demografische Wandel ist doch real. Wie soll man darauf reagieren?

Schmitz-Kießler: Natürlich, es gibt eine veränderte Altersstruktur. Aber Zuwanderung fängt das, was durch die niedrige Geburtenrate entsteht, häufig auf. Wir schrumpfen derzeit nicht – das gilt auch für die letzten 20 Jahre. Bei der Rente kommt es auch nicht nur darauf an, ob wir viele oder wenige sind. Es kommt auf das Verhältnis von Beitragszahlungen zu Rentenbeziehenden an.

Also: Wie schaffen wir es, mehr Menschen, auch mit Migrationshintergrund, besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren? Wie entwickelt sich das Lohnniveau? All das bestimmt die Einnahmeseite. Vergessen werden darf auch nicht, dass auch private, kapitalmarktgedeckte Produkte mit der gleichen Bevölkerung arbeiten müssen. In der Debatte wird häufig suggeriert, dass sie „demografieresistent“ seien, aber das stimmt nicht.

taz: Um eine bessere Finanzierung zu gewährleisten, wird immer wieder die Anhebung des Renteneintrittsalters diskutiert. Im Spiegel erschien neulich ein Artikel mit der Überschrift: „Wir werden länger arbeiten müssen und das ist eine gute Nachricht.“ Sehen Sie das auch so?

Schmitz-Kießler: Wenn Sie sich die Neurent­ne­r*in­nen nach ihrem Geburtsjahr anschauen, dann sehen Sie, dass immer mehr Menschen etwas länger im Job bleiben. Wir sind trotzdem noch nicht beim jetzigen Renteneintrittsalter von 67 Jahren angelangt. Das liegt daran, dass es Berufsfelder gibt, die es strategisch nahezu unmöglich machen, dieses Rentenzugangsalter zu erreichen. Typische Beispiele sind Dachdecker oder Pflegekräfte. Wenn man jetzt hoch auf 70 Jahre gehen würde, dann führt das für einige zu einer Rentenkürzung und zu einer noch stärkeren sozialen Polarisierung im Altersübergang.

taz: Trifft es Frauen besonders?

Schmitz-Kießler: Nicht nur, aber auch, denn betroffen sind ja auch Berufsfelder wie Gastronomie oder Pflege. Diese typischen Frauen-Dienstleistungsberufe gehen ohnehin mit einem hohen körperlichen und psychischen Verschleiß einher. Für die wäre das eine weitere Verschlechterung.

taz: Was sagt es über uns aus, wenn immer mehr Rent­ne­r*in­nen weiterarbeiten?

Schmitz-Kießler: Oft wird fehlinterpretiert, dass das aus Spaß an der Sache geschehe. Auf einige trifft das auch zu. Aber die überwiegende Anzahl tut das, um mehr Geld zur Verfügung zu haben. Insbesondere Frauen arbeiten oft weiter, um ihre Armutsrenten aufzubessern. Ganz häufig sind das Alleinerziehende, die es in unserer Gesellschaft nach wie vor viel schwerer haben, sich sozial abzusichern.

Frauen haben ein sehr viel größeres Armutsrisiko, aber es trifft zunehmend auch Männer

taz: Sind Frauen stärker von Altersarmut betroffen als Männer?

Schmitz-Kießler: Eine kleine Rente ist nicht gleichbedeutend mit Altersarmut, denn es kann ja auch einen Partner mit hoher Altersrente geben. Wenn ein Haushalt weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung hat, gilt er als arm. Frauen haben ein sehr viel größeres Armutsrisiko, aber es trifft zunehmend auch Männer. Wenn Sie die Statistik betrachten, zeigt die unter allen Rentnerinnen und Rentnern eine Armutsquote von über 17 Prozent an.

Das ist die am stärksten steigende Armutspopulation, die wir in Deutschland haben. Teilweise entstehen aus langen Beitragsjahren Renten, die nur geringfügig über dem Grundsicherungsniveau liegen. Das ist unbefriedigend in der Versorgung und führt zu fehlender Akzeptanz.

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