Politikwissenschaftlerin über Ukraine: „Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Die Politikwissenschaftlerin Claudia Major im Gespräch über einen möglichen Frieden in der Ukraine und die Gefahr eines Atomkriegs.
taz: Frau Major, der dritte Kriegswinter in der Ukraine steht bevor. Wird es der letzte sein?
Claudia Major: Das werden wir erst im Nachhinein wissen. Aber die Ukraine und Russland scheinen sich auf eine US-Entscheidung bezüglich des Krieges vorzubereiten. Trumps Wahl bedeutet eine große Unsicherheit für beide Seiten. Er hat einerseits angekündigt den Krieg in 24 Stunden zu beenden, ohne zu erklären wie. Das klingt nach einem Opfern der Ukraine. Andererseits sprechen MAGA Vertreter vom „Frieden durch Stärke“.
wurde 1976 in Ostberlin geboren. Sie hat ein deutsch-französisches Doppeldiplom in Politikwissenschaften und promovierte zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Major leitet die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Seit 2010 ist sie Mitglied im Beirat „Zivile Krisenprävention und Friedensförderung“ der Bundesregierung. Claudia Major ist verheiratet und hat drei Kinder.
Russland eskaliert, das zeigen die Ausweitung der Luftangriffe auf zivile Ziele, also die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung, und der Einsatz nordkoreanischer Soldaten. Daher versuchen beide Kriegsparteien sich in die bestmögliche Position zu bringen. Langsam aber stetig erobert Russland ukrainische Gebiete. Die russischen Material- und Personalverluste sind kaum vorstellbar: Schätzungen gehen von Verlustzahlen von 1000 bis 1900 Soldaten pro Tag aus Und die Ukraine versucht mit allen Mitteln, sie aufzuhalten, weil sie große Sorge hat, dass die Frontlinie zur Waffenstillstandslinie wird.
taz: Die USA hat den Einsatz reichweitenstarker Rakten genehmigt, die Ukraine setzt auch britische Storm Shadows ein. Nur in Deutschland führt die Taurus-Debatte weiterhin zu keiner Einigung. Könnte das ein Game Changer sein?
Major: Diese ganze Game Changer Debatte ist Unsinn. Eines der Grundprobleme in der deutschen Debatte ist, dass wir ganz lange über einzelne Waffensysteme diskutiert aber weniger gefragt haben, was das Ziel der Waffenlieferungen sein soll. Der Taurus würde der Ukraine helfen, wichtige militärische Ziele wie Kommandozentralen und Logistikknotenpunkte zu zerstören und damit Druck aus dem russischen Angriff rauszunehmen. Doch für eine wirkliche Wirkung hätte man sie schon viel früher liefern müssen. Wir scheinen zu glauben, dass wir durch die Lieferung ausgewählter Waffensysteme Putins Reaktionen kontrollieren und ein anarchisches System wie Krieg steuern können. Das grenzt an Hochmut.
taz: Wenn die Ukraine den Taurus nicht bekommt, wie kann Deutschland unterstützen?
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Major: Abgesehen von Taurus gibt es viele andere Wege, die Ukraine zu unterstützen. Sie braucht zum Beispiel Luftverteidigung, Nachschub bei gepanzerten Fahrzeugen, Investitionen in die ukrainische Rüstungsindustrie, die schneller und günstiger produziert als der Westen, Munition, Ersatzteile, Drohnenkomponenten. Letztlich beeinflussen die Ausstattung, Personal, finanzielle und politische Unterstützung der Ukraine, wie der Krieg weiter geht – und bei allen vier Bereichen können westliche Unterstützer mehr tun. Dazu gehört auch, die russische Rüstungsindustrie zu schwächen.
taz: Wie könnte ein Frieden garantiert werden?
Major: Die ultimative Lebensversicherung für einen Staat sind entweder eigene Atomwaffen oder eine Mitgliedschaft in einer Verteidigungsallianz wie der NATO. Russland hat bislang den Konflikt mit NATO-Staaten vermieden, weil diese glaubhaft vermitteln konnten, dass bei einem Angriff auf einen NATO-Staat, ob Estland oder Rumänien, alle 32 Alliierte – darunter drei Atommächte – gemeinsam zur Verteidigung kommen würden. Das wirkt abschreckend.
taz: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij hat sich dazu geäußert, zeitweise Gebiete abzutreten. Zeugt es von seiner Hilflosigkeit?
Major: Selenskij hatte im Sommer schon gesagt, dass er das allein nicht entscheiden kann. Wenn, dann muss das die ukrainische Bevölkerung mittragen. Momentan spricht sich die Mehrheit immer noch gegen Landabtretungen aus, weil sie wissen, dass unter russischer Besatzung nicht Frieden herrscht, sondern eine aktive Russifizierung und Entukrainisierung. Zudem hat 2014 gezeigt, dass Land gegen Frieden nicht funktioniert.
Die Ukraine musste die Krim und einen Teil des Donbass abgeben. Aber es gab keinen Frieden, sondern den nächsten Krieg ein paar Jahre später. Solange die Konfliktursachen nicht behoben sind, also solange Russland immer noch die Souveränität der Ukraine abschaffen will, und solange Moskau die Mittel hat, seine Ziele militärisch zu erreichen, solange ist die Ukraine bedroht. Dann ist ein Waffenstillstand eine Regenerationspause für die russischen Streitkräfte bis zum nächsten Angriff, wie zwischen 2014 und 2022.
taz: Was könnten Verhandlungen an diese Stelle bringen?
Major: Die Frage ist, wie man zum Kriegsende und dann Frieden kommt: durch Verhandlungen oder militärischen Druck. Bislang haben die zahlreichen Verhandlungsversuche, ob die brasilianisch-chinesische, afrikanische oder andere Initiativen, leider nichts gebracht. Putin scheint zu glauben, dass er in einer Position der Stärke ist, länger durchhält als die Ukraine und der Westen, und siegen kann – er hat also von einem Weiterführen des Krieges gerade mehr Vorteile hat als vom Aufhören. Putin hat seine Bedingungen klargemacht und die laufen nicht auf Verhandlungen hinaus, sondern auf eine Kapitulation und die Verwandlung der Ukraine in einen Vasallenstaat. Dazu gehören die Anerkennung der vier annektierten Gebiete plus der Krim als russisches Territorium, der Verzicht auf einen NATO-Beitritt, die Demilitarisierung, also die Limitierung der ukrainischen Streitkräfte auf einen Level, wo sie sich nicht mehr verteidigen kann, und die Denazifizierung, also einen Regimechange durch eine Absetzung des demokratisch gewählten Präsidenten. Mit diesen Forderungen geht es um Sieg, nicht um Verhandlungen.
taz: Im Juni fand ein Friedenskongress in der Schweiz statt, im November sollte ein weiterer Termin folgen. Man hört davon nun nichts mehr. Verschwendet man seine Zeit?
Major: Nein, weil es immer gut ist, zu versuchen, den Krieg zu beenden. Die Lage in der Ukraine ist katastrophal: Russland zerstört das Land systematisch, zerstört die Lebensgrundlagen, mordet und foltert, und will das Land in die Aufgabe zwingen. Und deswegen ist es immer gut zu versuchen, einen Ausweg zu finden. Was wir bei der Konferenz auf dem Bürgenstock aber gesehen haben, ist, dass der Versuch international Russland zu isolieren und weltweit Unterstützung zu bekommen, nicht funktioniert hat. Die Abschlusserklärung war auf wenige zentrale Punkte heruntergekürzt. Und trotzdem haben viele Länder des sogenannten globalen Südens nicht unterschrieben.
taz: Welche Rolle könnte an dieser Stelle ein Nato-Beitritt spielen?
Major: Die Ukraine hat eine NATO Beitrittsperspektive. Das haben die NATO-Staaten auf ihrem Gipfel 2024 bestätigt. Sie wird aber erst beitreten können, wenn alle 32 Alliierten zustimmen, also politisch geeint sind, die NATO glaubhaft auch die Ukraine verteidigen kann und Kyjiw die Beitrittskriterien erfüllt. Für die NATO heißt das zum Beispiel, dass sie genug Truppen und Ausrüstung, und die Pläne zur Verteidigung haben muss. Bislang sehen vor allem die USA und Deutschland einen schnellen Beitritt kritisch. Natürlich sind damit schwierige Fragen verbunden: wie nimmt die NATO ein Land auf, dessen Territorium zum Teil besetzt ist und die Grenzen unklar sind? Wann kann ein Beitritt erfolgen? Wenn Alliierte betonen, ein Beitritt käme erst nach dem Krieg, kann das für Russland ein Anreiz sein, diesen Krieg ständig weiterzuspinnen und damit ein Veto beim Beitritt zu haben. Wie kann man sich auf die Reaktion von Russland vorbereiten, wenn Moskau es als Eskalation auffasst? Aber ein NATO-Beitritt der Ukraine ist meines Erachtens ausdrücklich im Interesse von EU und NATO: Es wäre die kostengünstigste und stabilste Variante ist, die Ukraine und Europa abzusichern. Es bindet die Ukraine ein, kann Reformprozesse und den Wiederaufbau absichern und reduziert die Kosten für die Absicherung nach einem Waffenstillstand.
taz: Putin hat am vergangenen Dienstag seine Atom-Doktrin minimal ergänzt. Verstehen Sie die Sorge vor einem 3. Weltkrieg?
Major: Ich verstehe die Sorge – jeder Konflikt mit einer Atommacht ist gefährlich. Aber wir müssen auch verstehen, was Russland bezwecken will: Die nuklearen Drohungen sind seit Beginn der erneuten Invasion Teil des russischen Versuchs, uns einzuschüchtern und von der Unterstützung der Ukraine abzuschrecken. In Deutschland scheint das zu funktionieren – mehr als in anderen Ländern. Wir springen bereitwillig über fast jedes nukleare Stöckchen, was Moskau uns hinhält. Putin will Angst schüren. Doch letztlich weiß auch er, dass der Einsatz von Nuklearwaffen, also der Bruch des nuklearen Tabus seit 1945, für Russland katastrophal wäre. Wir können eher davon ausgehen, dass Russland konventionell weiter eskaliert, Konflikte an anderen Orten weltweit schürt und die hybriden Angriffe ausweitet, etwa Sabotage von kritischen Infrastrukturen, Desinformation und Cyberangriffe.
Die Frage für uns sollte sein, wo bei uns die Grenze zwischen notwendiger Besonnenheit und gefährlicher Selbstabschreckung verläuft, wann wir also aus Furcht unser Handeln einschränken und durch Unterlassen schlimmere Folgen in Kauf nehmen. Uns sorgt die mögliche Reaktion Putins – aber uns sollte auch die Perspektive eines russischen Sieges beunruhigen. Dann könnte Putin die Lehre ziehen, dass sich Krieg lohnt, der Westen sich nicht ernsthaft wehrt und dass nukleare Erpressung erfolgreich ist. Die Kosten eines russischen Sieges für Deutschland und Europa wären immens. Nichthandeln aus Furcht vor Handeln kann auch desaströse Folgen haben.
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