„Palästina-Kongress“ in Berlin aufgelöst: Kampf um die Deutungshoheit
Nur zwei Stunden nach Beginn hatte die Polizei den umstrittenen „Palästina-Kongress“ aufgelöst. Über das Vorgehen tobt der Streit nun im Netz.
Zwei Stunden nach Beginn der Veranstaltung stürmte die Polizei am Freitag den Saal, um einen Video-Vortrag zu unterbrechen, stellte zeitweise den Strom ab und forderte eine halbe Stunde später die rund 250 Anwesenden auf, den Raum zu verlassen.
Gegen den gerade erst per Video zugeschalteten 87-jährigen Autor und Forscher Salman Abu Sitta gebe es ein „politisches Betätigungsverbot“, erklärte eine Polizeisprecherin später der Öffentlichkeit. Es sei zu befürchten, dass es „antisemitische, gewaltverherrlichende und den Holocaust verleugnenden Redebeiträge“ geben könne. Die für drei Tage geplante Veranstaltung wurde deshalb ganz verboten.
Dem britisch-palästinensischen Chirurgen Ghassan Abu Sittah, Rektor der University of Glasgow, war zuvor am Berliner Flughafen die Einreise verweigert worden. Er hätte vor Ort als Redner auftreten sollen. Abu Sittah war im Oktober 2023 mit Ärzte ohne Grenzen nach Gaza gereist und wollte in Berlin darüber berichten, was er dort erlebt hatte. In einem dreistündigen Gespräch am Flughafen sei er gewarnt worden, er mache sich auch strafbar, wenn er sich online aus dem Ausland zu der Tagung zuschalten ließe, berichtete er anschließend.
Kritik an Varoufakis & Co
Der „Palästina-Kongress“ war schon hoch umstritten, bevor er begann. Angekündigt waren dort unter anderem der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis und die frühere spanische Gleichstellungsministerin Irene Montero von der linken Partei Podemos. Die Kritik an der Veranstaltung entzündete sich daran, dass schon in der Ankündigung von „Apartheid“ und einem „Genozid“ in Gaza gesprochen wurde. Außerdem hatten einige Teilnehmer den terroristischen Angriff der Hamas nicht verurteilt, darunter Yanis Varoufakis.
Boulevardmedien hatten deshalb monatelang gewarnt, in Berlin würden sich „Israel-Hasser“ und „Antisemiten“ treffen. Viele andere Medien hatten das aufgegriffen, die FAZ zog sogar Parallelen zur Wannseekonferenz. Politiker aller Parteien, von Union bis Linkspartei, hatten dagegen protestiert. Zu dem Treffen hatten diverse Gruppen und Initiativen eingeladen, die Berliner Innenverwaltung bezeichnet sie als „israelfeindliches Boykott-Spektrum“. Einer der Veranstalter war die Gruppe „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden“, von denen etwa ein Dutzend Mitglieder – manche mit Kippa als Juden erkennbar – an der Veranstaltung teilnahmen.
Grund für die Polizei, den Video-Vortrag von Abu Sitta abzubrechen, war offenbar ein Blog-Beitrag des 87-jährigen vom Januar. Darin hatte dieser geschrieben, wäre er jünger, hätte er einer derjenigen sein können, die am 7. Oktober die Blockade des Gazastreifens durchbrachen. Beim Überfall der islamistischen Hamas waren etwa 1.200 Menschen in Israel getötet worden. Als Redner war Sitta allerdings schon seit Monaten angekündigt, sein Vortrag also alles andere als überraschend. Dennoch griff die Polizei mit voller Härte durch, als sei akute Gefahr im Verzug.
Massives Polizeiaufgebot
Aus Vorsicht hatten die Veranstalter den Versammlungsort erst am Freitagmorgen bekannt gegeben: ein Hochzeitssaal in einem Gewerbegebiet im Bezirk Tempelhof. Schon vor Beginn fing die Berliner Polizei potentielle Besucher ab und sperrte die ganze Straße weiträumig, überall standen Polizeiwagen und Absperrgitter. Die Polizei hatte sich auf einen mehrtägigen Großeinsatz mit rund 2.500 Polizistinnen und Polizisten vorbereitet und dafür Verstärkung aus Nordrhein-Westfalen angefordert. Allein am Freitag sollen in Berlin rund 900 Beamte im Einsatz gewesen sein.
Dafür, dass die Polizei von Anfang an auf zermürbende Schikanen setzte, blieben die meisten Teilnehmer erstaunlich geduldig. Der Unmut äußerte sich nur ab und zu in Sprechchören. Die Menschen, die auf der Straße am Eintritt in den Saal gehindert wurden, skandierten „Viva Palestina“, „Israel bombardiert, Deutschland finanziert“ und „Wo wart ihr in Hanau?“. Und als der Strom abgestellt wurde, erschollen die Rufe, „Shame on you“, „Hoch die internationale Solidarität“, „Intifada“ und „Waffenruhe reicht nicht. Scholz und Baerbock vor Gericht“.
Über 800 Leute hatten sich laut Veranstalter eine Karte für die Veranstaltung gekauft. Der Zutritt wurde von der Polizei kurzfristig auf 250 begrenzt, viele wurden nicht eingelassen. Die Beamten hatten den Kongress kurzfristig als „öffentliche Versammlung“ eingestuft und deshalb Auflagen wie bei einer pro-palästinensischen Demonstration erlassen. Für die Presse gab es einen eigenen Bereich, in dem sich Journalisten von deutschen, türkischen und arabischen Medien sammelten.
Den Versuch einiger Aktivisten, ihnen mit Tüchern die Sicht zu versperren, wurde von der Polizei rasch unterbunden. Vor Beginn der Veranstaltung wurden die Auflagen der Polizei verlesen: auf Deutsch, Englisch und Arabisch, denn das Publikum war international. Untersagt wurde etwa das Verbrennen von Fahnen, Gewaltaufrufe gegen Israel und Symbole terroristischer Organisationen. Nichts davon war auf der Veranstaltung zu sehen und zu hören, nur viele Palästinensertücher und ein paar palästinensische Fahnen.
Kampf um die Deutungshoheit
Der einzige Gast, der zu Wort kam, war die US-amerikanische Journalistin und Aktivistin Hebh Jamal. Sie zitierte in ihrer Rede Edward Said und den Autor Ghassan Khanafani, nannte Israel einen faschistischen, siedlerkolonialen Staat“ und sagte, sie hätte sich das Ausmaß des Horrors in Gaza nicht vorstellen können. Als sie von einer 14-jährigen Angehörigen spricht, die dort mit ihren Bruder und 20 Mitgliedern ihrer Familie durch israelische Bomben umgekommen ist, kommen ihr die Tränen, sie stockt. Anschließend zitiert sie einen Polizeibericht, der über sie angefertigt worden sein soll, und berichtet, sie sei am Abend zuvor von einem Undercover-Polizisten verfolgt worden.
Kaum war die Veranstaltung beendet, begann in den Sozialen Medien der Kampf um die Deutungshoheit. Berlins Bürgermeister Kai Wegner schrieb, „wir haben klar gemacht, welche Regeln in Berlin gelten“. Bundesinnenministerium Nancy Faeser schrieb, „wir dulden keine islamistische Propaganda und keinen Hass gegen Jüdinnen und Juden“ – ein absurdes Statement, zumal bei dem Kongress mehr jüdische Teilnehmer waren, als etwa im Vorstand der „Deutsch-Israelischen Gesellschaft“ zu finden sind.
Linke Kritiker zeigten sich empört. „Der Faschismus ist zurück, und er braucht nicht einmal eine Regierung, um an die Macht zu kommen“, sagte Yannis Varoufakis in einem Video-Statement. „Ein Skandal“, schrieb der linke britische Autor Owen Jones. Auch Juristen äußerten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen. Für Empörung sorgte vor allem das Einreiseverbot für den Rektor der Uni Glasgow, Abu Sittah, und die Verhaftung eines jüdischen Teilnehmers, der eine Kippa mit Melonen-Muster trug, dem Symbol der Palästina-Solidarität. Weil sich Beamte darüber lustig gemacht hatten, hatte er einem Beamten Antisemitismus vorgeworfen.
Die Polizei greift hart durch
Ein weiterer Teilnehmer berichtete, er habe eine Anzeige erhalten, weil er ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Free Palestine“ und einer stilisierten Faust in den palästinensischen Farben trug. Es musste es ausziehen und der Polizei als „Beweisstück“ überlassen: „Zum Glück hatte ich etwas darunter“. Eine spanische Journalistin berichtete, die Polizei habe ihr den Zutritt zu der Veranstaltung verwehrt. Auf dem Rückweg von der Veranstaltung wurden Studierende aus Wien für längere Zeit festgehalten.
Man muss die Ansichten und einzelne Äußerungen der Organisatoren und Teilnehmer des Kongresses in keinster Weise gutheißen, um den Eindruck zu gewinnen, hier habe der Staat eine ominöse Staatsraison mit den Mitteln eines Polizeistaats durchgesetzt. Die Veranstalter haben erst einmal Widerspruch gegen die Entscheidung der Polizei eingelegt und planen eventuell weitere rechtliche Schritte. Für Samstag ist laut Polizei Berlin eine Demonstration mit 1.500 Menschen gegen das Verbot des Kongresses angemeldet. Die Behörden rechnen mit spontanen Protestveranstaltungen.
„Putin und Netanjahu wären stolz auf die Berliner Polizei“, sagte Wieland Hoban von der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden“ zur taz. Auch die Einreiseverbote und die Kündigung seines Vereinskontos seien fragwürdig. „Rechtstaatlich ist das nicht.“
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