Neue Vorwürfe gegen Jugendpsychiater: Schwarze Pädagogik 2.0
Die Bestürzung über die Praktiken des Kinderpsychiaters Michael Winterhoff ist groß. Aber warum konnte er überhaupt einen solchen Erfolg haben?
Es war 2008 das meist verkaufte Sachbuch, „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Seitdem hat Michael Winterhoff das Tyrannenthema in mehreren Büchern variiert. 1,3 Millionen Exemplare wurden verkauft. Unzählige Vorträge folgten. Wenn in Linz zum Beispiel 7.000 Lehrer und natürlich auch Lehrerinnen in die Messehallen zu Dr. Winterhoff kommen, hält er das wie einen Wahrheitsbeweis der Kritik von Fachkollegen entgegen.
Empfohlener externer Inhalt
Aber seinen Vortrag am kommenden Dienstag im Düsseldorfer Kongresszentrum vor erwarteten 4.000 Leiterinnen von Kitas hat er nun „zurückgezogen“.
Gern gesehener Gast war er und wäre er wohl auch weiterhin bei „Lanz“, „hart aber fair“ oder Anne Will. Die Talkmaster preisen seine Autorität. „Kinderpsychologe Nummer eins“ (Maischberger). Sie machten ihn zum Stimmführer beim alten Gassenhauer „Nach uns nichts Nennenswertes“. Die Klage über den Sittenverfall bei der Jugend fand man ja schon auf altägyptischen Steintafeln.
Winterhoff datiert den Beginn des Verfalls von der alten Sollbruchstelle Pubertät zurück auf dreijährige Kinder oder gar auf Anderthalbjährige. In diesen frühen Entwicklungsstadien hielten die Eltern, sagt er, ihre Kinder gefangen, weil sie ihnen keine Grenzen setzen. Seine Diagnose: Eltern-Kind-Symbiose. Die Eltern lieferten sich den kleinen Tyrannen, die sie päppelten, aus.
Keine Lust auf gar nichts
So kämen übergroße Narzissten auf uns zu, die irgendwann alles in den Orkus ziehen, denn sie hätten keine Lust auf gar nichts, streikten schon, wenn man von ihnen verlange, dass sie Papier vom Boden auflesen, und kämen später als Auszubildende nicht mal mehr pünktlich zur Arbeit. Inzwischen seien 50 Prozent, manchmal sagt er auch 60 Prozent, nicht mehr ausbildungsfähig.
Mit seiner Formel vom Steckenbleiben im frühkindlichen Narzissmus und der Symbiose mit schwachen Eltern glaubt er das ursprüngliche Drehmoment einer teuflischen Abwärtsspirale der ganzen Gesellschaft ausgemacht zu haben.
Seine Lösung, von der er allerdings bei seinen Auftritten nie spricht, die er sogar regelmäßig geißelt: Psychopharmaka für Kinder. Tatsächlich verschreibt er sie am laufenden Band. Pipamperon, ein sedierendes Neuroleptikum, das Kinder müde und häufig dick macht, nach dessen Einnahme sie widerstandslos funktionieren. Er gab diesen Stoff Kindern über Jahre. Ohne Diagnose, außer seinem selbst erfundenen ständigen Mantra: „frühkindlicher Narzissmus“ und „Symbiose mit den Eltern“. Das zeigt nun eine Fernsehdokumentation.
Dr. med. Michael Winterhoff, der berühmte Kinder- und Jugendpsychiater, ein Kindervergifter? Das ist, wenn man die Kinder, manche sind inzwischen Jugendliche, die Eltern und eine Erzieherin in der ausgezeichneten WDR-Doku von Nicole Rosenbach gesehen hat, kaum übertrieben.
Kinder wie Roboter
Pipamperon wird sonst, wenn Kindern überhaupt, nur als Notfallmedikament gegeben. Winterhoff verschreibt es nicht nur Kindern, die mit ihren häufig ratlosen Eltern in seine Praxis kommen, er behandelt damit reihenweise Kinder aus Heimen, deren Vertragsarzt er ist. „Das bekamen wir jeden Tag, dreimal“, sagt ein Mädchen in der Doku.
Und eine Erzieherin, die über 25 Jahre in verschiedenen Heimen gearbeitet hat, die Winterhoff versorgt, schildert sein System so: Entweder fuhren die Kinder mit einem Bus alle paar Monate zu ihm, oder er kam. „Das ging dann ratzfatz.“ Nichts von Psychotherapie. Rezepte. Die Heime waren zufrieden mit Kindern, „die laufen wie die Roboter, die machen, was man ihnen sagt“.
Wie passen dieses Handeln und Winterhoffs Sprüche – Theorie kann man seinen Parolenmix wirklich nicht nennen – zusammen? Der performative Widerspruch ist das auffälligste Symptom des Narzissmus Erwachsener. Sie erfinden je nach Passung ihre Welt ständig neu oder wiederholen ihre Beschwörungsformeln. Sie glauben sich selbst umso mehr, je größer das Echo auf sie. Unter dem Beifall, zu dem ihr durchaus sensitiver Opportunismus sie navigiert, gehen sie sich beständig selbst auf den Leim.
Sie suchen das Echo, keine Resonanz. Und es langweilt sie überhaupt nicht, ständig den gleichen Vortrag zu halten und das gleiche Buch in kleinen Variationen noch mal zu schreiben. Im Echo finden sie Gewissheit.
Narzissmus als Zeitdiagnose
Narzissmus ist tatsächlich ein Problem unserer Zeit. 1979 erschien vom US-amerikanischen Kulturhistoriker Christopher Lasch „Zeitalter des Narzissmus“. Und was den steigenden Narzissmuspegel bei Jugendlichen betrifft, hatte Tom Ziehe, inzwischen emeritierter Erziehungswissenschaftler und einst Mitbegründer der Glockseeschule in Hannover, bereits 1975 in „Pubertät und Narzissmus“ das Nötige gesagt.
Wie bitter nötig heute Debatten über narzisstische Verblendungen wären, demonstrierte nun lange genug der Narzissmuskönig Donald Trump.
Immer noch fragt man sich, nun auch beim „Bestsellerkönig“ (Plassberg) Michael Winterhoff aus Bonn: Wie können sie damit nur durchkommen, Säle füllen, Großsekten initiieren und immer berühmter für ihre Berühmtheit werden? Dabei redet Trump bei seinem Lieblingsthema Fake News und in seiner „Haltet den Dieb!“-Haltung so erkennbar nur über sich und sein notorisches Lügen. Ähnlich verhält es sich beim Kindervergifter und ja, auch Diskursvergifter, Michael Winterhoff.
Narzissmus ist tatsächlich sein Ding. Nur sucht er offenbar keinen Therapeuten für sich, er verweigert auch den Kindern, deren Eltern ja gewöhnlich aus Not zu ihm kommen, die Psychotherapie und vorher schon eine individuelle Diagnose. Was sich später bei gewissenhaften Therapeuten zum Beispiel als Asperger-Syndrom oder Beziehungsstörung herausstellt, bekommt bei ihm wie ein Sekundenkleber immer das gleiche Label mit anschließender Medikamentation: „Entwicklungsretardierung mit Fixierung im frühkindlichen Narzissmus“. Und dann morgens, mittags und abends Pipamperon.
Kein Interesse für Individuen
An den Individuen mit ihrer je besonderen Geschichte war und ist er gar nicht interessiert. Das kostet Zeit und verlangt vor allem zuzuhören, eben miteinander sprechen. Mit seiner Zeit geizt er. Er, die große Kapazität, hat ja so viele Patienten und dann noch die Heimkinder. Winterhoff hält auch den Eltern seiner Patienten lieber kleine Vorträge, statt sie zu Wort kommen zu lassen. Seine Diagnose steht ja ohnehin fest. Bei Jungen betastete er in einer Erstuntersuchung schon mal den Penis, was in der Psychotherapie unüblich ist.
Dass Menschen bei anderen das bekämpfen, was sie bei sich selbst ahnen oder sogar erkennen, ist normal, jeder kennt das von sich, wenn man „die Innenbeleuchtung einschaltet“ (Luhmann). Aber der Verdacht liegt nahe, dass dieser Psychiater den Knopf dafür gar nicht kennt. Statt nach den ersten Impulsen und Projektionen in eine Second Order der Reflexion überzugehen und sich zu öffnen, ist er ständig dabei, sein System zu schließen.
Das Empörende an Winterhoff ist sein Verzicht auf Denken und der Erfolg, den er damit hat. Denken setzt immer voraus, dass man auch mit sich nicht ganz einverstanden ist. Hannah Arendt zitierte dazu gern Platon: „Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst.“ Das geht nicht ohne Differenz. Was hätte man sich auch sonst zu sagen.
Ohne Differenz gibt es eine Art Pfeiftonrückkopplung, wie wenn Mikrofon und Lautsprecher zu nah beieinander stehen. Dieser Pfeifton ist schrecklich. Der Denkverzicht ist böse. Versessenen auf Eineindeutigkeit neigt diese Haltung zum Krieg, zum Vernichten. Das war der Kern der Schwarzen Pädagogik – und der Vernichtungsimpuls ging über die Erziehung weit hinaus.
Du sollst funktionieren
Die Schwarze Pädagogik eines Winterhoff arbeitet mit der Schwarzmalerei. „Ein Großteil der heutigen Schüler ist emotional und sozial auf dem Stand von Kleinkindern.“ Also muss man sie bekämpfen, wenn man den Zusammenbruch der Gesellschaft verhindern will. Bekämpfen mit Pipamperon und „wieder“ strikten Gehorsam verlangen. Das erste Gebot: Du sollst funktionieren. Die Freiheit der Kinder wird zum Feindbild schlechthin. Vorstellungen von selbstorganisiertem Lernen sind dann der Kern des Übels.
Erziehung und Bildung sind die DNA-Werkstätten der Gesellschaft. Im Guten wie im Schlechten. Deshalb ist das System Winterhoff und vor allem das Echo auf ihn so irritierend. Sein Erfolg verweist aber auch auf einen blinden Fleck der Gesellschaft in nachautoritären und zugleich postantiautoritären Zeiten: der Mangel an wirklich erwachsen gewordenen Erwachsenen, die – zitieren wir nochmals Hannah Arendt – den Kindern gegenüber die Verantwortung für die Welt auch da übernehmen, wo sie nicht mit ihr einverstanden sind.
Erwachsen sein heißt auch, das innere Kind zu schützen. Inneres Kind? Albert Einstein antwortete auf die Frage, wie er sich seine Entdeckungen erkläre: „Dass ich immer das innere Kind geblieben bin.“
Den Abtreibungsversuchen des inneren Kindes, wie es Winterhoff betreibt, zu widerstehen, dem dummen Echo eine Vielfalt von Resonanzen entgegen zu setzen und statt Grenzen Formen zu entwickeln, das ist eine Aufgabe, die sich lohnt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen