Neue Regelung für Therapie: Die normierte Psyche
Die Bundesregierung plant, dass künftig vor einer Therapie deren Dauer festgelegt wird. Das widerspricht individuellen Bedürfnissen.
Wer seelisch leidet, braucht professionelle Hilfe. Auf dem Weg dorthin gibt es eine innere Hürde, sich zu überwinden, und eine äußere: der Zugang zu einer entsprechenden Therapie. Die zweite Hürde soll nun größer werden.
Das Bundesgesundheitsministerium möchte das sogenannte Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) um eine Regelung ergänzen, die den Zugang zu Psychotherapie weiter bürokratisieren soll. Laut einer Formulierungshilfe des Ministeriums für einen entsprechenden Änderungsantrag, die der taz vorliegt, soll der dafür zuständige Gemeinsame Bundesausschuss prüfen, „wie die Versorgung von psychisch kranken Versicherten bedarfsgerecht und schweregradorientiert sichergestellt werden kann“. Fachverbände lehnen das ab.
„An die Stelle von individueller Diagnose und Behandlung soll künftig in der Psychotherapie eine Versorgung nach groben Rastern treten“, schrieb die Bundespsychotherapeutenkammer in einer Pressemitteilung. Der Bundestag soll demnächst abschließend über das Gesetz debattieren.
Das Vorhaben wird auch in sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #RasterPsychotherapie heftig kritisiert. Die Änderung bedeutet, dass künftig nicht mehr die Psychotherapeut*in eine Diagnose stellt und die Behandlungsdauer innerhalb der auch jetzt schon vorgeschriebenen Kontingente individuell plant, entlang der Erkrankung der Patient*in und des Behandlungsverlaufs. Stattdessen soll mit Hilfe eines Rasters schon zu Beginn der Behandlung festgelegt werden, wie viele Behandlungsstunden aufgrund einer gestellten Diagnose genehmigt werden.
ist Professorin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin und in Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin.
Diagnose ist Prozess
Diese Bestimmung ist praxisfern und zeigt, wie wenig das von Jens Spahn geführte Ministerium von psychischen Erkrankungen und deren Behandlung versteht. Dabei muss man keine Psychotherapeut*in sein, um zu verstehen, dass das nicht funktioniert – zumindest nicht im Sinne einer erfolgreichen Behandlung, wäre doch ein solches Vorgehen auch in der Organmedizin absurd.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass organische Erkrankungen vielleicht etwas vergleichbarer sind als psychische Krankheitsverläufe und deren weit in die Biografie zurückreichenden Ursachen: Es wäre auch in einer organmedizinischen Behandlung absurd, nach dem Motto „Für Krankheit x bekommen Sie y Therapieeinheiten, und wenn das Knie dann immer noch schmerzt, Pech gehabt“ vorzugehen.
ist Professorin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin und in Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin.
Das gilt noch mehr für die psychotherapeutische Behandlung. Nicht selten steht am Beginn einer Behandlung eine Diagnose, die später erweitert, verändert oder verworfen wird. Denn die laufende Behandlung und das sich bildende Vertrauen in die Therapeut*in machen es überhaupt erst möglich, bisher mit Not und Mühe Vermiedenes zur Sprache zu bringen, sich zu öffnen. Psychische Probleme benötigen den haltenden Rahmen einer therapeutischen Beziehung, um bearbeitet werden zu können.
Das erfordert Vertrauen und Vertrauen erfordert Zeit. Gerade wenn das Leben bisher wenig Anlass zu Vertrauen gegeben hat, wie es oft bei komplexen psychischen Erkrankungen der Fall ist. Kontraproduktiv für diesen Prozess ist eine Limitierung nach vorab gestellter Diagnose.
Arbeit an der Beziehung
Psychotherapie, egal welcher Couleur, ist bei allen Unterschieden immer auch Arbeit an und in der Beziehung. Diese Art der Arbeit, von der Patient*innen am meisten profitieren, ist gefährdet bis unmöglich, wenn zu Beginn schon anhand der Zuordnung zu einer Diagnose entschieden wird, wie viele Behandlungsstunden überhaupt möglich sind. Einer individuellen Behandlung wird damit eine entschiedene Absage erteilt und Retraumatisierung Vorschub geleistet: Schon wieder keine Hilfe, schon wieder zu wenig Zeit!
Die Idee einer „Rasterpsychotherapie“ zeigt einmal wieder, dass nicht das Wohl der Patient*innen maßgeblich für die Gesundheitspolitik aus dem Hause Spahn ist, sondern die möglichst weitgehende Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung. Zudem folgt ein solches Vorgehen einer Logik des Verdachts. Oder würde eine solche Gesetzesänderung Sinn ergeben ohne die Unterstellung, Patient*innen würden bisher zu lange behandelt, oder Psychotherapeut*innen seien nicht kompetent genug, um über die Behandlungsdauer zu entscheiden?
Die Folgen der Ökonomisierung sollten in ihrer ganzen Problematik spätestens seit dem letzten Jahr ins Bewusstsein gerückt sein. Die Folgen der Sparpolitik für die stationäre medizinische Versorgung zeigten sich dramatisch in der Coronapandemie. In Kliniken, die seit der weitgehenden Privatisierung des Gesundheitswesens nach Wirtschaftlichkeit zu planen gezwungen sind, mangelte es an Betten und auch an denjenigen, die die Patient*innen versorgen.
Kein Geld, keine Therapie?
Es zeigt sich schon jetzt, dass psychische Erkrankungen aufgrund der Coronapandemie zugenommen haben; ein Trend, der sich, so viel ist aus der Forschung bekannt, noch verstärken wird, wenn die „Normalität“ zurückkehrt und das Gefühl abnimmt, sich zusammenreißen zu müssen.
Viele belastete Patient*innen erkranken psychisch, wenn die größte äußere Belastung nachlässt. Ausgerechnet in so einer Situation restriktiv in die psychotherapeutische Versorgung einzugreifen, zeugt im besten Fall von Unkenntnis, im schlechtesten von Ignoranz und Zynismus: Wer zukünftig nicht das Geld hat, eine private psychotherapeutische Behandlung zu finanzieren, die so lange dauert, wie es erforderlich ist, droht durch dieses Raster zu fallen.
So zumindest der Plan, der nicht einmal ökonomisch Sinn ergeben würde, da nicht behandelte psychische Leiden häufig zu Arbeitsunfähigkeit führen und wiederum Kosten verursachen würden. Vielleicht liegt ja auch für diese Problemlage schon die nächste Ergänzung eines schon im Bundestag beratenen Gesetzes bereit.
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